
Nach Urteilen in Tunesien "Rückkehr in die Ära der politischen Gefangenen"
In Tunesien hat ein Gericht im sogenannten Verschwörungsprozess Haftstrafen von bis zu 66 Jahren verhängt. Menschenrechtsorganisationen sehen den Prozess als politisch motiviert: Ziel sei es, Kritiker in dem Land mundtot zu machen.
Sie singen die Nationalhymne vor dem Gerichtssaal - Angehörige und Unterstützer der Angeklagten in einem der größten Gerichtsverfahren in Tunesiens Geschichte. Ein lauter Protest. Doch das Urteil in diesem Verfahren kommt in der Stille der Nacht. Am frühen Morgen, zwischen 4 und 5 Uhr früh, meldet die staatliche Nachrichtenagentur TAP, die rund 40 Angeklagten seien zu Haftstrafen von bis zu 66 Jahren verurteilt worden.
Über den Ausgang dieses so genannten Verschwörungsprozesses hatte sich schon am Freitag niemand mehr Illusionen gemacht, auch nicht Einayet Msallem vom Oppositionsbündnis Front de Salut: Es handele sich nicht um einen Prozess, sondern um ein Schauspiel, sagt sie. "Jetzt versteht jeder, dass es sich hier nicht mehr um eine korrekt geführte Justiz handelt, sondern dass sie Befehle von oben bekommt, vom Präsidenten."
Teils jahrelange Untersuchungshaft
Im Februar 2023 waren die ersten Festnahmen erfolgt. Manche der Beklagten saßen mehr als zwei Jahre in Untersuchungshaft. Erst im März dieses Jahres ging der Prozess los - und dauerte nur drei Verhandlungstage. Die Anklage lautete: Verschwörung gegen den Staat, Vorbereitungen zum Sturz des Präsidenten Kais Saied und Zusammenarbeit mit einer terroristischen Organisation.
Unter den Beklagten sind einige Prominente, ein Ex-Geheimdienstchef, ein führender Oppositionspolitiker, Unternehmer, Anwälte, fast alle Kritiker des Präsidenten Kais Saied, wie auch Abdelhamid Jelassi, der schon unter dem 2011 gestürzten Diktator Ben Ali im Gefängnis saß.
Seine Frau Monia Brahim sagte auf Facebook, dass sie nun damit rechne, ihren Mann auch weiterhin im Gefängnis mit Essen versorgen zu müssen: "Heute morgen haben wir Angehörigen miteinander gesprochen und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie groß die Geduld und die Standhaftigkeit der Familien sind, und die Sicherheit, dass das alles keinerlei Bedeutung hat." Die Längen der verhängten Strafen seien für sie bedeutungslos, "denn einfach ausgedrückt wissen wir, dass jedes tyrannische und populistische System im Verlauf seiner Geschichte irgendwann so ein Urteil fällen wird."
Menschenrechtsorganisation sieht Justizmissbrauch
Menschenrechtsorganisationen werfen dem jetzigen Präsidenten Kais Saied schon länger vor, die Justiz zu missbrauchen, um die Opposition kaltzustellen. Bassam Khawaja, stellvertretender Direktor von Human Rights Watch, sagt, in Tunesien, dem Geburtsland des arabischen Frühlings, würden die Uhren zurückgedreht: ""Leider hat der derzeitige Präsident Kais Saied das Land in die Ära der politischen Gefangenen zurückgeführt."
Dieses Verschwörungsverfahren jetzt, sagt Khawaja, entbehre jeder juristisch haltbaren Grundlage: "Human Rights Watch hat die Beweislage in diesem Fall geprüft und wir fanden sie außergewöhnlich dünn dafür, dass die Behörden hier so schwere Vorwürfe gegen Vertreter der Opposition und der Zivilgesellschaft in Tunesien erheben."
Verwunderung über die EU
Khawaja kann vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehen, warum die Europäische Union in der zurückliegenden Woche vorgeschlagen hat, Tunesien in den Kreis der sicheren Herkunftsländer aufzunehmen: "Es ist problematisch zu sagen, Tunesien ist ein sicheres Land, wenn wir gleichzeitig soviel systematische Unterdrückung sehen."
Präsident Saied hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Er sagt, er bekämpfe das Chaos und die Korruption in Tunesiens politischer Elite.