
60 Jahre deutsch-israelische Beziehungen Zerreißprobe für die Staatsräson?
60 Jahre nach dem diplomatischen Neuanfang belasten der internationale Haftbefehl gegen Premier Netanjahu und der Krieg in Gaza die deutsch-israelische Beziehungen. Was bleibt von der deutschen Staatsräson?
Damals - im März 2008 - erhoben sie sich geschlossen in der Knesset. Das erste Mal stehende Ovationen, seit hier 1977 der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat gesprochen hatte. An diesem Tag sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Wort aus, das bereits der deutsche Botschafter in Israel, Rudolf Dressler, eher unbeachtet drei Jahre zuvor formuliert hatte: Staatsräson.
Diese historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit und das Existenzrecht Israels ist Teil der Staatsräson meines Landes.
"Deutschlands Platz ist an der Seite Israels"
Staatsräson. Das Wort hat viel erlebt, seit Israel vor 60 Jahren auch aus politischer und ökonomischer Vernunft heraus bereit war, aus erster Annäherung einen Versöhnungsprozess, aus so viel Tod neues diplomatisches Leben mit Deutschland wachsen zu lassen.
Deutschlands neuer Außenminister Johann Wadephul spricht jetzt bei seinem Antrittsbesuch in Israel von einem "kostbaren, niemals selbstverständlichen Geschenk". Eines, das am 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel überfiel und mit Terror überzog, eine neue, harte Belastungsprobe erlebte.
Der damalige Kanzler Olaf Scholz rückte im Oktober 2023 im Bundestag Deutschland eng an die Seite des Verbündeten:
In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: Den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.
Aus Solidarität mit dem angegriffenen Israel aber wuchs auch in Deutschland mit der Zeit das Entsetzen über die israelische Kriegsführung. Mittlerweile finden nur noch 18 Prozent der Deutschen das israelische Vorgehen richtig. 60 Prozent wollen laut Umfrage der Bertelsmann Stiftung nicht mehr, dass Deutschland weiter Kriegswaffen an Israel liefert.
Wie weit reicht die deutsche Solidarität?
Und selbst der neue Bundeskanzler Friedrich Merz, der einst als Oppositionsführer die mangelnde Unterstützung der Ampelkoalition für Israel kritisierte, formuliert heute schon deutlich vorsichtiger. "Israel macht uns allergrößte Sorgen." Ein Satz, der hängen bleibt.
"Israel hat das Recht, sich zu verteidigen gegen diesen brutalen Angriff der Hamas und gegen alles, was danach folgte." Aber, schiebt Merz nach, Israel müsse auch ein Land bleiben, das den humanitären Verpflichtungen gerecht werde. Denn zur deutschen Staatsräson, das sagen sie übrigens auch unter einem neuen Außenminister Wadephul, gehöre genauso das Bekenntnis zum internationalen Völkerrecht.
Spätestens seit US-Präsident Trump den gesamten Gazastreifen räumen, die Palästinenser umsiedeln und das Gebiet in eine "Riviera des Nahen Ostens" umwandeln will, seit auch Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ähnliche Ideen äußert, steht Deutschland, der enge Verbündete Israels, vor einem Dilemma: Wie weit reicht eine Staatsräson und wo endet Solidarität?
Diplomatischer Hochseilakt
Der deutsche Außenminister Wadephul wandelt auf dem schmalen diplomatischen Hochseil, wenn er sagt, das Bekenntnis zu Israels Sicherheit als Staatsräson müsse immer wieder neu "auch im Lichte unserer Geschichte und der internationalen Rechtsordnung, der wir besonders verpflichtet sind", interpretiert werden.
In Tel Aviv und Jerusalem hören sie da ganz genau hin. Auch übrigens im Büro von Premier Netanjahu, der seit November 2024 per Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesucht wird. Einem Gericht, zu dessen Gründungsmitgliedern das Land gehört, das Merz jetzt als Kanzler regiert.
Es war Netanjahu, der mit allen politischen Wassern gewaschene Machtpolitiker, der Merz damals als einer der ersten Regierungschefs noch in der Wahlnacht gratuliert hatte und anschließend bewusst öffentlich machte, was den neuen Kanzler seither verfolgt: Dass Merz ihn nämlich zu einem offiziellen Besuch nach Deutschland eingeladen habe, "in offener Missachtung der skandalösen Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofes, den Ministerpräsidenten als Kriegsverbrecher einzustufen", so der Wortlaut der israelischen Pressemitteilung damals.
Haftbefehl als Belastung für das Verhältnis
Der Haftbefehl ist nach dem Gazakrieg die nächste massive Belastung der deutsch-israelischen Partnerschaft. Einer Partnerschaft, die damals vom ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer zusammen mit dem israelischen Premier David Ben-Gurion in New York 1960 geschmiedet wurde. Das Treffen mit Ben-Gurion war "einer der schönsten, aber auch ernstesten Augenblicke seiner gesamten Laufbahn", sagte Adenauer danach.
Heute, 65 Jahre später, muss Adenauers Nachfolger Merz erklären, wie er den per Haftbefehl gesuchten Netanjahu in Deutschland empfangen will. "Ich habe dem Ministerpräsidenten Netanjahu zugesagt, dass wir Mittel und Wege finden werden, dass er Deutschland besuchen und auch wieder verlassen kann, ohne dass er in Deutschland festgenommen worden ist." Eine Aussage, die Friedrich Merz seitdem möglicherweise bereut.

Adenauer und Ben-Gurion im Waldorf Astoria Hotel in New York am 14. März 1960. Adenauer bemühte sich um eine Aussöhnung mit Israel.
Humanitäre Lage in Gaza "unerträglich"
60 Jahre nach Beginn der diplomatischen Beziehungen sind in diesen Tagen wieder die Diplomaten gefragt. Wie nämlich umgehen mit dem Leid der Menschen in Gaza, deren humanitäre Situation der neue Außenminister Wadephul öffentlich "unerträglich" nennt? Anders übrigens hat es auch seine Vorgängerin im Amt, Annalena Baerbock, nie formuliert.
Was tun mit israelischen Partnern, die humanitäre Hilfe blockieren und den Siedlungsbau im Westjordanland gegen bestehendes Recht fortsetzen?
Seit Anfang März leben rund zwei Millionen Menschen im Gazastreifen ohne jede Hilfe. Es gibt kein sauberes Wasser, keine medizinischen Güter, keine Nahrungsmittel. Ein ganzes Volk hungert. Der Gazastreifen vom 6. Oktober 2023, dem Tag vor dem brutalen Terrorangriff der Hamas, existiert heute nicht mehr. Mindestens 70 Prozent der Gebäude sind zerstört, das Gebiet von militärischen Korridoren zerschnitten, die Menschen konstant auf der Flucht vor Bomben und Beschuss.
Den richtigen Ton treffen
60 Jahre deutsch-israelische Partnerschaft - der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sprach einst von einem "Wunder". Einer von Gaucks Vorgängern, Johannes Rau, hatte schlaflose Nächte, bevor er als Bundespräsident im Jahr 2000 in der Knesset den richtigen Ton traf:
Im Angesicht des Volkes Israel verneige ich mich in Demut vor den Ermordeten, die keine Gräber haben, an denen ich sie um Vergebung bitten könnte.
Heute, 60 Jahre nach Beginn der diplomatischen Beziehungen, stehen Deutschlands Diplomaten wieder vor dem Problem, den richtigen Ton zu treffen gegenüber einem sehr komplizierten Freund.