Soldaten der Schweizer Armee und die Feuerwehr stehen vor einem Geröllfeld.

Gletscherabsturz in der Schweiz Flutwelle oder eine Gerölllawine?

Stand: 30.05.2025 11:38 Uhr

Nach dem Gletscherabbruch in der Schweiz richten sich nun die Blicke auf den entstandenen Stausee hinter dem Schuttkegel. Dass sich die Wassermassen einen Weg ins Tal bahnen müssen, steht fest - aber wie schlimm wird es?

Hinter dem Schuttkegel des Gletscherabbruchs im Lötschental ist der gestaute Fluss Lonza so bedrohlich angeschwollen, dass die Behörden weitere Gemeinden auf eine Räumung vorbereiten. "Wir fordern die Bewohner auf, persönliche Vorbereitungen zu treffen, um in möglichst kurzer Zeit die Wohnungen verlassen zu können", teilen die Gemeinden Steg-Hohtenn und Gampel-Bratsch auf ihrer Webseite mit.

Betroffen sind die Gemeinden Gampel und Steg rund 20 Kilometer unterhalb des verschütteten Dorfes Blatten. Insgesamt wohnen in dem Gebiet mehr als 2.000 Menschen, aber der Aufruf gilt nur für die Ortsteile am Talgrund, wie die Gemeinden mitteilen. 

Karte Schweiz mit dem Kanton Wallis und den Orten Blatten, Ferden, Gampel, Steg

Schuttberge im Flussbett

In der Nähe von Gampel fließt die Lonza in die Rhone - wenn sie Wasser führt. Das Flussbett ist aber nach dem gigantischen Gletscherabbruch am Mittwoch durch meterhohe Schuttberge blockiert. Dahinter stauen sich die Wassermassen. Der Wasserstand stieg zeitweise stündlich um drei Meter.

Die Lage ist bedrohlich, die Kante des meterhohen Eis-, Fels- und Geröllbergs ist fast erreicht, heißt es vom Katastrophenstab. Die Behörden rechnen stündlich damit, dass das Wasser des Flusses Lonza sich einen Weg Richtung Tal bahnt. Sie hoffen, dass das Wasser gemächlich abfließt.

Nach dem Bergsturz im Lötschental kann der gestaute See weiterhin über die Schuttberge donnern

Sandra Biegger, ARD Genf, tagesschau, 30.05.2025 12:00 Uhr

Erstes Wasser fließt ab

Zugleich begann aber erstes Wasser durch den Schutt- und Geröllberg hindurch abzufließen, was Hoffnung auf ein Ausbleiben der befürchteten Flutwelle gab. Je mehr Wasser langsam durch die sich über rund 2,5 Kilometer erstreckenden Schutt- und Geröllmassen abfließe, desto geringer sei die Gefahr einer plötzlichen Flutwelle, sagte der für den Kanton Wallis zuständige Geologe Raphaël Mayoraz dem Radiosender RTS.

Auszuschließen ist nach Angaben der Behörden aber nicht, dass das Wasser über den Schuttkegel schwappt und eine Flutwelle oder eine Gerölllawine ins Tal rauscht, wenn das Wasser Teile des instabilen Schuttkegels mitreißt. 

Hoffen und bangen

Wegen der gefährlichen Lage müssen Talbewohner, Katastrophenhelfer und die herbeigerufenen Armeeangehörigen weitgehend tatenlos zusehen, wie sich die Situation zuspitzt. Mit schwerem Gerät Furchen für einen geordneten Ablauf des Wassers in den Schuttpegel zu fräsen, ist keine Option. 

Laut Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren des Kantons Wallis gibt es mehrere Gefahrenquellen: Der Schuttberg sei instabil, weil er aus Felsbrocken, losem Schutt und Gletschereis bestehe, das schon teils geschmolzen sein dürfte. Weder Menschen noch Maschinen wären darauf sicher, sagte er im Schweizer Fernsehen.

"Worst-Case-Szenario" ist unwahrscheinlich

"Wir können sicherstellen, dass sich möglichst keine Personen in einem gefährdeten Gebiet aufhalten", sagte Studer. Außerdem wurde ein weiter unten bei Ferden an der Lonza gelegener Stausee vorsichtshalber geleert, um als Auffangbecken zu dienen.

Studer spricht aber auch das Schreckensszenario an, das zwar unwahrscheinlich, aber möglich ist: "Das 'worst case'-Szenario ist, dass plötzlich entgegen den aktuell als eher realistisch eingeschätzten Szenarien viel mehr Wasser und Geschiebe kommt, das das Staubecken Ferden nicht mehr zu schlucken vermag", sagte er. Experten gehen aber davon aus, dass dort sämtliches Material aufgehalten werde.

Dass eine riesige Flutwelle das Tal hinunter donnert, sei nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, sagte auch Staatsrat Stéphane Ganzer, Mitglied der Walliser Kantonsregierung. Der Druck durch das nachfließende Wasser der Lonza sei da, insofern könnten sich die Wassermassen auch plötzlich einen Canyon durch den Schuttberg brechen. Zudem werde oben im Tal mit 20 Grad Temperatur gerechnet. Dann schmelze der Schnee, was die Wassermengen noch erhöhe. 

Blatten ist begraben und geflutet

Auch die Lage am Berg ist nach wie vor gefährlich. Zum einen drohen vom Kleinen Nesthorn weitere Hunderttausende Kubikmeter Fels abzustürzen. Von dort waren Felsbrocken auf den Birschgletscher gestürzt, der unter der Last am Mittwochnachmittag abbrach und ins Tal donnerte. Von den gigantischen Mengen Geröll wurde ein Teil auf der gegenüberliegenden Talseite hochgeschoben. Dort drohen nun Gerölllawinen. Wie stabil der eigentliche Schuttpegel ist, weiß auch niemand. Weil darin Eis ist, könnten sich Wassertaschen bilden. Räumtrupps der Armee stehen zwar bereit, aber das Gebiet zu betreten sei noch zu gefährlich, so die Behörden. 

Auf Drohnenbildern war zu sehen, dass ein Großteil des Dorfes Blatten unter einer meterhohen Schuttschicht liegt. Die meisten der wenigen zunächst verschonten Häuser sind von der Lonza überflutet. Die rund 300 Einwohner waren vergangene Woche in Sicherheit gebracht worden. Ein Einheimischer, der sich am Mittwoch im Katastrophengebiet aufhielt, wird vermisst. Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es liegt auf rund 1.500 Metern. 

Eine Luftaufnahme, die einen Tag nach der massiven Lawine, die durch den Abbruch des Birchgletschers ausgelöst wurde, aufgenommen wurde, zeigt die Zerstörung, nachdem sie auf den Talboden niederging und das Dorf Blatten zerstörte

Eine Luftaufnahme, die einen Tag nach der massiven Lawine, die durch den Abbruch des Birchgletschers ausgelöst wurde, aufgenommen wurde, zeigt die Zerstörung, nachdem sie auf den Talboden niederging und das Dorf Blatten zerstörte.

Eine Folge des Klimawandels?

Von einer Jahrhundertkatastrophe ist die Rede. Eine Folge der Erderwärmung? Ein einzelnes Ereignis direkt auf den Klimawandel zurückzuführen, ist schwierig, sagte Jan Beutel, Professor der Universität Innsbruck. Er untersucht seit Jahren den Zustand von Felsen und Permafrost sowie Klimaeinflüsse. Dennoch: "Die starken Veränderungen, die wir heute im Hochgebirge erleben, sind zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte", sagte er laut Mitteilung der Universität Innsbruck. "Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht - eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 29. Mai 2025 um 22:30 Uhr.