
Kritik an Umgang mit Missbrauchsopfern Kirche muss zugeben, wenn sie es "verkackt" hat
Auf dem Kirchentag geht es um Themen wie Frieden, Rechtsextremismus und Klimawandel. Viele Prominenten wie Altkanzlerin Merkel sind zu Gast. Aufhorchen lässt eine Kirchenvertreterin mit deutlicher Kritik am Umgang mit Missbrauchsopfern.
Die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst hat der evangelischen Kirche Ignoranz und Lieblosigkeit im Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt vorgeworfen. Sie predige vom barmherzigen Samariter und weise dennoch den Verletzten die Tür, sagte die Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beim Kirchentag in Hannover.
"Die Tür müsste weit offen stehen - sie tut es nicht." Dafür trage auch sie selbst als leitende Theologin Verantwortung, sagte Wüst in einer Dialogbibelarbeit mit der Betroffenenvertreterin.
Betroffene äußern Kritik
Dem Gespräch lag ein Text aus dem Markusevangelium zugrunde, in dem Jesus zunächst hochmütig eine Hilfe suchende fremde Frau abweist, sich dann aber durch deren Hartnäckigkeit belehren lässt. Sie wünsche sich eine Kirche, die letztlich wie Jesus erkennt, wenn sie es "verkackt" habe. "Kirche muss sich grundsätzlich, konsequent und nachhaltig unterbrechen lassen (...), selbst in Haushaltsplänen."
Die Betroffenenvertreterin schilderte in der fast voll besetzten Marktkirche von Hannover, wie die Kirche sie als Betroffene von sexualisierter Gewalt als Störerin abgewiesen und im Stich gelassen, ihr sogar die Schuld zugeschrieben habe. Dennoch mache die Geschichte vom lernenden Jesus ihr Hoffnung.
Bis Sonntag rund 1.500 Veranstaltungen in Hannover
Am Mittwoch war der Kirchentag mit Gottesdiensten unter freiem Himmel und einem bunten Straßenfest eröffnet worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief die Gläubigen dabei zu Mut und Zuversicht in Krisenzeiten auf.
Bis Sonntag sind rund 1.500 Veranstaltungen - darunter Gottesdienste, Diskussionsforen, Workshops und kulturelle Angebote - zu Glaubensfragen und gesellschaftlichen Themen wie Frieden, Klimaschutz und Rechtsextremismus geplant. Zu Gast ist zahlreiche Prominenz aus Gesellschaft und Politik - unter anderem die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und der geschäftsführende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
"Stumme Kirche ist dumme Kirche"
Auch der geschäftsführende Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) war beim Kirchentag dabei. Er forderte mehr politische Einmischungen der Kirchen. "Es muss doch verflixt nochmal so sein, dass gerade jetzt in diesen Zeiten engagierte Christinnen und Christen sich einmischen", sagte Heil bei einer Bibelarbeit. "Eine stumme Kirche ist eine dumme Kirche."
Nötig sei "nicht mehr Einförmigkeit", sondern mehr Streit. Als Teil des Kirchentags müsse er selbstkritisch einräumen: "Wir sind auch manchmal ein bisschen zu mittelalt, zu akademisch und zu einig." Heil ist Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags.
Merkel: Werden Klimawandel bis heute nicht gerecht
Auch Altkanzlerin Angela Merkel äußerte sich in Hannover. Sie forderte mehr Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel. Es bedürfe noch mehr Mut, Stärke und Beherztheit "von jedem von uns", sagte Merkel unter Anspielung auf das Leitwort des Kirchentages. Auf ihre Amtszeit zurückblickend sagte sie selbstkritisch: "Gerecht werden wir dieser Menschheitsaufgabe bis heute nicht."
Für sie sei die Frage nach wie vor offen, "ob wir Menschen willens und in der Lage sind", im Sinne der Vorsorge entsprechend den Warnungen und Einschätzungen von Experten zu handeln. "Der Beweis dafür ist bis heute nicht erbracht", sagte Merkel und ergänzte, dies gelte für Deutschland wie für den Rest der Welt. "Diese Feststellung lastet schwer auf uns, auch auf mir", sagte Merkel, die von 2005 bis 2021 deutsche Regierungschefin war.
Bei der aktuellen 39. Auflage des Christentreffens in Hannover hielt sie eine sogenannte Bibelarbeit, bei der an jedem Morgen Prominente aus Politik, Kirche und Gesellschaft eine Bibelstelle auslegen. Tausende Menschen verfolgten den rund halbstündigen Beitrag Merkels in einer Halle auf dem Messegelände der niedersächsischen Landeshauptstadt.
Der Papst als Ratgeber in einer Krisensituation
Dabei schilderte die Ex-Kanzlerin auch eine Begegnung mit dem verstorbenen Papst Franziskus, der sie während ihrer Amtszeit in einer Krisensituation inspiriert habe. Sie habe ihn kurz vor dem G20-Gipfel im Jahr 2017 besucht, nachdem der damals frisch gewählte US-Präsident Donald Trump angekündigt hatte, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen zu wollen, sagte Merkel. Sie habe Franziskus gefragt, was man machen solle, wenn 19 Staaten wollten, einer aber nicht. "Er hat dann ganz spontan zu mir gesagt: biegen, biegen, aber aufhören, bevor es bricht." Den Rat habe sie sich zu Herzen genommen.
Die G20-Staaten hätten unerwartet ein gemeinsames Kommuniqué zu Papier bringen können. "Wir sind nicht zerbrochen, 19 Staaten mussten aber die bittere Pille schlucken, dass der zweitgrößte Verursacher von CO2-Emissionen sich dem Pariser Abkommen nicht angeschlossen hat." Alle weiteren Themen habe man gemeinsam tragen können, "weil wir nicht in die Kontroverse gegangen sind", so Merkel. "Es war keine ideale Lösung, aber eine, so dass es weitergehen konnte."
Merkel steht zu ihrer Migrationspolitik
Die Altkanzlerin äußerte sich auch zur Migrationspolitik während ihrer Amtszeit. Ihr Satz "Wir schaffen das" sei ihr oft um die Ohren gehauen worden. "Ich habe damals nicht gesagt, ich schaffe das", betonte Merkel. "Das war mein Vertrauen darin, dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die in einer solchen Notsituation helfen. Und die gab es, und darauf können wir stolz sein. Lassen wir uns das nicht nehmen."
Sie habe auch gewusst, dass man nicht jeden Tag 10.000 neue Menschen aufnehmen könne, und man müsse bis heute besser werden darin, dass die, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben, das Land wieder verlassen. "Aber die, die bei uns vor der Tür standen sozusagen, an der Grenze, die haben wir eben nicht abgewiesen, sondern aufgenommen."
Mit ihren Äußerungen hebt sich Merkel vom Migrationskurs ihres designierten Nachfolgers Merz ab. Der CDU-Chef hat angekündigt, von Tag eins der neuen Bundesregierung würden die Staatsgrenzen noch besser kontrolliert und Zurückweisungen in größerem Umfang durchgeführt werden. Auch in der EU werde man einen sehr viel restriktiveren Kurs unterstützen.