Baden-Württemberg Nach IS-Terror: So baute sich Farhad Alsilo in Stuttgart ein neues Leben auf

Stand: 20.06.2025 10:22 Uhr

Farhad Alsilo überlebte in seiner Heimat Nordirak als 11-Jähriger den Völkermord an den Jesiden. Heute lebt er in Stuttgart und teilt seine Geschichte mit anderen, um Mut zu machen.

Von Christin Hartard

Farhad Alsilo ist 22 Jahre alt und studiert Maschinenbau. Auf der Social-Media-Plattform Tiktok postet er Videos aus seinem Leben: er, wie er über seinen Studien-Unterlagen sitzt, mit seinem Traumauto oder singend zu kurdischer Musik. Ein selbstbewusster, junger Mann. Nichts lässt erahnen, was er durchmachen musste.

IS verschleppt Schwestern und tötet Vater

Es ist der 3. August 2014, an dem sich Farhad Alsilos Leben für immer verändert. Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) überfallen an diesem Tag das nordirakische Dorf, in dem Farhad Alsilo mit seiner jesidischen Familie lebt. Er muss mitansehen, wie der IS seinen Vater tötet und vier seiner Schwestern verschleppt. Damals ist es gerade einmal elf Jahre alt.

Es folgt die Flucht durch die brennend heiße Wüste bis nach Kurdistan. Zehn Monate lang leben Farhad Alsilo, seine Mutter und seine Schwester in Zelten, Containern oder Notunterkünften in Schulen. "Es war ein ständiger Kampf um’s Überleben", erinnert er sich.

Die Angst vor dem IS, die traumatischen Bilder, die ihn verfolgen und immer wieder die Frage im Kopf: Wozu bin ich eigentlich noch am Leben? "Solche Gedanken sollte kein Kind jemals haben", sagt der 22-Jährige. 2015 kommt er mit seiner Familie über ein Sonderflüchtlingskontingent des Landes Baden-Württemberg für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder nach Stuttgart.

Ich habe alles bewundert, die Supermärkte, die Züge. Das kannte ich so nur aus Filmen. Farhad Alsilo über seine Ankunft in Stuttgart

Das Ankommen in Deutschland ist für Farhad Alsilo wie eine Neugeburt, ein kompletter Neuanfang - im Positiven wie im Negativen. Die Sprache, die er ein Leben lang gesprochen hat, bringt ihm plötzlich nichts mehr. Das Erlebte und vor allem der Verlust des Vaters belasten ihn. Gleichzeitig ist er fasziniert von dieser neuen Welt, wie er es nennt. "Ich habe alles bewundert, die Supermärkte, die Züge. Das kannte ich so nur aus Filmen."

Die Bibliothek wird zum zweiten Zuhause

Vor allem die Schulzeit ist zu Beginn schwer. Farhad Alsilo wohnt damals mit seiner Familie fast eineinhalb Jahre in einer Asylunterkunft - zu viert in einem Zimmer. Konzentriertes Lernen ist undenkbar. Er entdeckt die Bibliothek für sich. Direkt nach der Schule geht er in die Bibliothek und bleibt, bis sie schließt. Während Klassenkameraden nach der Schule ihre Geschwister um Hilfe bei den Aufgaben bitten konnten, habe er sich alles selbst erarbeitet, erzählt der 22-Jährige.

Letztlich macht er den Realschulabschluss als Jahrgangsbester und setzt das Abitur obendrauf. Er ist der erste Akademiker in seiner Großfamilie. Sein Vater habe ihn damals vor seinem Tod immer sehr bestärkt und ihm gesagt, dass er Großes schaffen kann, sagt Farhad Alsilo. "Ich glaube, dass er mich nie ganz verlassen hat. Ich mache das auch für ihn."

Rassismus ist alltäglich

Mittlerweile ist Stuttgart Farhad Alsilos Heimat geworden. Für ihn ist vollkommen klar: Er gehört hierher. Von außerhalb bekommt er jedoch oft etwas anderes vermittelt. Leute, die über ihn reden und denken, er versteht sie nicht. Die Frau in der Bahn, die ihre Tasche zu sich zieht, wenn er sich neben sie setzt. Solche rassistischen Erfahrungen macht Farhad Alsilo täglich. Trotzdem ist er froh, in Deutschland zu leben. "Die Bildung, die Sicherheit und die Möglichkeiten, die du ihr hast - das ist nicht selbstverständlich."

Über seine Erlebnisse hat Farhad Alsilo auch ein Buch geschrieben: "Der Tag, an dem meine Kindheit endete". Auf 170 Seiten schreibt er über jenen schrecklichen Tag im August 2014, über die Flucht, aber auch über das Einleben in Deutschland. Das Buch zu schreiben und zu veröffentlichen sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, sagt er.

Beim Schreiben habe ich manchmal geweint und gezittert und musste aufhören. Farhad Alsilo

"Das, was ich erlebt habe, hat mich lange Zeit wirklich runtergezogen." Jeden Tag holten ihn die Erlebnisse ein, also fing er an, sie aufzuschreiben - damals noch in gebrochenem Deutsch. "Beim Schreiben habe manchmal geweint und gezittert und musste aufhören. Trotzdem habe ich gemerkt, dass es mir hilft", sagt Farhad Alsilo.

Letztlich konnte er mit seinem Buch aber auch anderen helfen. Immer wieder, so erzählt er, melden sich Menschen bei ihm und bedanken sich, dass er seine Erlebnisse teilt und so Mut macht. Denn Farhad Alsilos Geschichte ist eben nicht nur eine von Leid und Überleben, sondern auch eine von Ankommen und Weiterleben.

Aktionstag im StadtPalais Stuttgart

Anlässlich des Weltflüchtlingstags ("World Refugee Day") am Freitag, dem 20.06., veranstalten das Freiwilligenzentrum Caleidoskop und der Jugendmigrationsdienst der AWO Stuttgart einen Aktionstag im StadtPalais in Stuttgart. Farhad Alsilo liest dabei aus seinem Buch. Von 14 bis 18 Uhr gibt es außerdem Musik, Workshops, Kreativangebote und Diskussionen. Alle Angebote werden in mehrere Sprachen übersetzt.

Sendung am Fr., 20.6.2025 19:30 Uhr, SWR Aktuell Baden-Württemberg, SWR BW

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