
Niedersachsen Obdachlos in Niedersachsen: Jonnys langer, schwerer Weg zurück
Allein in Niedersachsen leben rund 33.000 Menschen auf der Straße, haben keine eigenen vier Wände - im Sommer wie im Winter. Oft sind sie alkoholkrank, ohne wirkliche soziale Kontakte. Einer von ihnen: Jonny in Nordhorn.
Drei Jahre lang war Jonny obdachlos, lebte zuletzt mehrere Monate im Zentrum von Nordhorn (Landkreis Grafschaft Bentheim) und schlief in einem Schlafsack auf einer Isomatte. Alles was er besaß, passte auf einen Fahrradanhänger. NDR Reporter Claus Halstrup aus dem Studio Osnabrück hat den heute 40-Jährigen drei Monate lang begleitet. Kennengelernt haben sie sich im Winter bei eisigen Temperaturen. Jonny war schwer gezeichnet vom ständigen Alkoholkonsum. Es folgten die harte Zeit einer Entgiftung und die verzweifelte Suche nach einer eigenen Unterkunft.
Claus, wie hast Du Jonny am Anfang der Dreharbeiten erlebt?
Claus Halstrup: Er war unglaublich aufgeräumt. Niemals hätte ich gedacht, mit einem Mann zu sprechen, der seit drei Jahren auf der Straße lebt. Nicht nur, dass er sehr hygienisch und normal gekleidet war, Jonny ist auch offen, höflich, hilfsbereit und amüsant - jemand, der sofort auf andere mit einem Lächeln zugeht. Bei unserem Rundgang durch Nordhorn grüßten ihn die meisten Passanten freundlich. Ein Zeichen dafür, dass er, obwohl er seit Monaten schon in der Innenstadt als Obdachloser lebte, ein gewisses Standing hatte und hat. Auf den zweiten Blick fiel natürlich das gerötete Gesicht auf, wie auch die etwas verwaschene Sprache und der mitunter unsichere Gang.
Das kam durch die Alkoholsucht?
Halstrup: Genau. Jonny funktionierte zu der Zeit ab einem Pegel von rund 2,5 Promille. Für ihn bedeutete das etwa drei Flaschen Wein am Tag. Als wir morgens gemeinsam bei einem Bäcker frühstückten, begann er von einem auf den anderen Augenblick an zu zittern, Schweiß rann ihm die Stirn herunter. Er entschuldigte sich dafür und meinte, dass er nun Nachschub bräuchte. Hektisch zahlten wir und dann ging es zu einem nahen Getränkemarkt. Nach einem Bier und einem Schnaps beruhigte er sich, entschuldigte sich nochmal mit dem Satz: "Sieht nicht schön aus, ich weiß. Aber das ist gerade noch meine Medizin."
Wie waren denn die Dreharbeiten unter diesen Umständen?
Halstrup: Wir haben uns von vornherein darauf verständigt, dass ich alleine mit einer kleinen Kamera drehe. So konnten wir mehr Nähe aufbauen. Das normale Dreier-Team mit Kamera-Kollegen, Ton-Kollegen und mir als Autoren hätte nicht gepasst, die Distanz wäre zu groß gewesen, geschweige denn die Aufmerksamkeit, für die wir so gesorgt hätten. Schon ab dem ersten Drehtag herrschte eine harmonische Grundstimmung. Wir haben uns sehr gut verstanden, auch Witze übereinander gemacht, uns gegenseitig Sprüche reingereicht und uns köstlich amüsiert. Ohne dabei den Fokus auf das zu verlieren, warum ich dort war: die missliche Situation von Jonny kennenzulernen und zu begleiten.
Und die war schlimm. Wie ist er überhaupt in diese Situation gekommen?
Halstrup: Der ursprüngliche Grund war wohl der frühe Unfalltod seines Vaters. Der hat den noch jugendlichen Jonny aus der Bahn geworfen. Damals fing aber auch die gesamte Familie an, Probleme mit Alkohol zu bekämpfen. Nach der abgeschlossenen Kochlehre hat er in dem Beruf auch gearbeitet und sich dann mit einem Entrümplungsunternehmen selbstständig gemacht. Und das lief offenbar, wie er sagt, sehr gut. Wäre da nicht die Buchhaltung gewesen, mit der er völlig überfordert war. Die Folge war die Pleite und er verfiel wieder dem Alkohol. Sein restliches Geld trug er in die Kneipe. Der Schuldenberg wuchs, so war nicht nur der Job weg, ihm wurde auch die Wohnung gekündigt. Drei Jahre lebte er auf der Straße, zog durch mehrere Städte.
Was hat er da erlebt, wie hat er überlebt?

Jonny wurde Opfer eines brutalen Überfalls und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus behandelt werden musste.
Halstrup: Überlebt hat er, wie er erzählt, durch die Punkerszene, der er sich kurz angeschlossen hatte. Dort lernte er, wie er einen richtigen Schlafplatz erkennt, was für eine Ausrüstung er braucht, um im Winter nicht zu erfrieren und auch, wie man legal an ein paar Euro kommt, um für Nachschub zu sorgen, sprich den täglichen Bedarf an Alkohol zu decken. Im Dezember vergangenen Jahres ist Jonny jedoch Opfer eines brutalen Überfalls geworden. Auf dem Nordhorner Weihnachtsmarkt wurde er von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus behandelt werden musste. Das Problem: Jonny war zu der Zeit nicht krankenversichert. Sein Glück im Unglück war, dass die mutmaßlichen Täter gefasst werden konnten. Die Stadt Nordhorn hat die Krankenhauskosten vorerst übernommen, kann sie nach einer Verurteilung zurückfordern.
Wie ging es dann weiter?
Halstrup: Eine Zufallsbekanntschaft und sein Wille, aus dieser Situation herauszukommen, waren sicher die Initialzündungen dafür, was wir dann erlebten. Jonny lernte Bianca Wagner kennen. Sie ist eine ganz normale Bürgerin, gehört keiner Hilfsorganisation an, aber merkte direkt, dass sie ihm helfen muss und will. So konnte Jonny schon das Weihnachtsfest bei Familie Wagner feiern. Und Bianca begleitet ihn bis heute, ist nun seine Betreuerin und hat ihn auch auf dem Weg zur Entgiftung gestützt.
Was war für ihn der Antrieb, diesen Weg zu gehen?

Bianca Wagner hilft Jonny und hat ihn zum Weihnachtsfest mit ihrer Familie eingeladen.
Halstrup: Vor allem seine drei Kinder, keines ist älter als zehn Jahre. Sie leben in Pflegefamilien und das ist der sensibelste Punkt für Jonny. Er wusste natürlich, dass sie unter den Voraussetzungen nicht zu ihm zurückkommen konnten. Da half nur eins: Er musste den ersten Schritt zurück in ein normales Leben machen, so schwer der auch war.
Die Entgiftung?
Halstrup: Genau, sie begann im Februar, als Jonny die Bestätigung des Jobcenters erhalten hatte, wieder krankenversichert zu sein. Es war wieder Bianca Wagner, die bei den Vorgesprächen dabei war und ihn auch zur stationären Aufnahme begleitete. Drei Wochen Entzug, das sollte nur unter ärztlicher Aufsicht und mit medikamentöser Unterstützung geschehen. Ansgar Siegmund ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Euregio-Klinik Nordhorn, in der auch Jonny behandelt wurde. Er betont, dass bei dieser Entzugsbehandlung vor allem die ersten drei Tage hart seien, ohne medikamentöse Unterstützung sogar lebensgefährlich werden könnten. Es kann zu Halluzinationen kommen, die Menschen fühlen sich häufig verfolgt. Der Blutdruck kann aus den Fugen geraten, sehr hohe Spitzen erreichen. Und auch der Herzschlag kann außer Kontrolle geraten. Zum Beispiel ein Schlaganfall kann die Folge sein. All das muss medikamentös begleitet werden. Wenn Patienten wie Jonny die ersten Tage geschafft haben, sind die meisten motiviert, weiterzumachen. Dann kommen weitere Therapien: Einzel- und Gruppengespräche und therapeutische Anwendungen, bei denen die Patienten verstehen, was sie für eine Erkrankung haben, wie sie mit Rückfällen umgehen müssen und auch Fähigkeiten wieder erlernen, die unter dem massiven Alkoholmissbrauch oft schwer gelitten haben, wie eine Tagesstruktur.
Und ist Jonny nun trocken?

Jonny besucht eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Alkoholiker in Nordhorn.
Halstrup: Ja, bisher ist er trocken, hat nach vielen Enttäuschungen sogar ein kleines Zimmer bezogen. Und er besucht eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Alkoholiker in Nordhorn. Das gehört zur Therapie und ist sogar verpflichtend. Aber er genießt die Abende, denn er trifft auf Menschen, die die Probleme der anderen genau kennen und daher immer ein offenes Ohr haben und in schwierigen Situationen füreinander da sind.
Claus Halstrup im Gespräch mit NDR.de.
Dieses Thema im Programm:
NDR Fernsehen | Hallo Niedersachsen | 21.04.2025 | 19:30 Uhr