
Nordrhein-Westfalen "Ich hatte so viel Wut im Bauch": Behandlungsfehler auf hohem Niveau
Es gibt sie immer wieder in Deutschland: medizinische Behandlungsfehler. Für Betroffene kann sich dadurch das ganze Leben ändern.
Für viele ist es eine Horrorvorstellung, nach einem medizinischen Eingriff festzustellen, dass das falsche Bein operiert wurde oder dass man einen schweren gesundheitlichen Schaden davongetragen hat. Laut Zahlen der Techniker Krankenkasse, die dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vorliegen, ist das aber jährlich für tausende Betroffene Realität.
Medizinische Behandlungsfehler auf hohem Niveau
Demnach wandten sich 6.431 Versicherte in Deutschland an die Krankenkasse, weil sie einen Behandlungsfehler vermuteten. Das ist der zweithöchste Wert der vergangenen zehn Jahre. Die Zahl liegt nur geringfügig unter dem bisherigen Spitzenwert des Jahres 2023, als 6.509 Versicherte einen Verdacht meldeten.

Jens Baas, Chef der Techniker Krankenkasse
"Die Bandbreite der geschilderten Vorfälle ist groß: Sie reicht von verwechselten Medikamenten, über die Operation des falschen Körperteils bis hin zu Todesfällen aufgrund von Pflege- und Behandlungsfehlern", sagt Jens Baas, Chef der Techniker Krankenkasse.
Pflegefall nach medizinischem Routineeingriff
Ein medizinischer Behandlungsfehler kann in manchen Fällen das ganze Leben auf den Kopf stellen. So wie bei Matthias Miemczyk. Bei einer Operation an der Nasenscheidewand wirkt bei ihm die Narkose nicht. Als er hochschreckt, rammt er sich die Instrumente ins Gehirn. Monate lang liegt Matthias im Krankenhaus, seine Prognose - er ist ein Pflegefall, der nie wieder gehen wird. Wegen eines Fehlers des Anästhesisten.

Mutter Anna Miemczyk
"Ich hatte so viel Wut im Bauch, dass das bei einem eigentlichen Routineeingriff passiert", erzählt seine Mutter Anna dem WDR. "Er war danach ein zerstörter Mensch, der so viel schon erreicht hatte." Matthias hatte sein Studium bereits beendet und seine Doktorarbeit angefangen. "Und plötzlich kann er nicht sprechen und sich nicht bewegen."
Laut Statistik werden mit 34 Prozent der Fälle besonders häufig Behandlungsfehler in der Chirurgie angezeigt. Mit Abstand folgen Zahnmedizin und Kieferorthopädie mit 18 Prozent und Geburtshilfe und Gynäkologie mit 9 Prozent. Bei Millionen Behandlungen pro Jahr in Deutschland sind die Zahlen der Verdachtsfälle zwar verhältnismäßig gering, dennoch fordert TK-Chef Baas eine Meldepflicht von allen medizinischen Einrichtungen.
Fehlerkultur im Gesundheitssystem nicht vorgesehen
Denn aktuell würden Fehler nur erfasst, wenn Patientinnen und Patienten sie selbst meldeten. "Dadurch bleiben viele Fehler unentdeckt und eine systematische Auswertung von Fehlerquellen und Verbesserungen ist unmöglich", kritisiert Baas. "Fehler werden bisher noch viel zu oft verschwiegen oder bagatellisiert, statt sie als Chance für Verbesserungen zu nutzen", so der Kassenchef. "Wir brauchen eine offene Fehlerkultur, um die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern."
Doch an den Unis scheint der Umgang mit Fehlern keine Rolle zu spielen. "Im Studium selber wird das leider nur sehr wenig behandelt", sagt Medizinstudent Dominik Daschner. Und auch im laufenden Betrieb scheint kaum an der Etablierung einer Fehlerkultur gearbeitet zu werden.

Notfallmediziner Uwe Janssens
Das würde nämlich bedeuten, dass man sehr genau aufpassen müsste, wie Fehler entstehen und warum sie entstehen, erklärt Notfallmediziner Uwe Janssens. "Dafür braucht es tatsächlich Geld und Personal und das ist in dem Gesundheitssystem so nicht vorgesehen und wird auch nicht finanziert."
Rechtsstaat muss Interessen der Opfer stärken
Die mangelnde Fehlerkultur im deutschen Gesundheitssystem kann Familie Miemczyk bestätigen. "Die haben das nicht zugegeben und die Schuld auf Matthias geschoben", sagt sein Vater Eugen. Erst nach zwölf Jahren hartem Kampf erhielt Matthias Schmerzensgeld. Die Haftpflichtversicherungen setzten hier häufig auf Zeit und hoffen darauf, dass die Behandlungsfehler-Opfer irgendwann aufgeben, beklagt auch TK-Chef Baas. "Es wird höchste Zeit, dass der Rechtsstaat die Interessen der Opfer stärker in den Blick nimmt und die Verfahren beschleunigt."
Unsere Quellen:
- WDR-Interview mit Familie Miemczyk
- WDR-Interview mit Dominik Daschner
- WDR-Interview mit Uwe Janssens
- Nachrichtenagentur KNA