Ein Mann steht in einem von der Ahrflut schwer beschädigten Haus

Rheinland-Pfalz Ahrflut - Experten kritisieren Einstellung der Ermittlungen

Stand: 24.04.2025 21:08 Uhr

Gab es während der Flutkatastrophe an der Ahr im Juli 2021 ein fehlerhaftes Verhalten von Verantwortlichen? Ja, sagen Experten und fordern eine Anklageerhebung.

Am Abend des 14. Juli 2021 legt sich Johanna Orth früh schlafen in ihrer Erdgeschosswohnung in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Die Feuerwehr hatte um 20:17 Uhr in Durchsagen lediglich davor gewarnt, Keller und Tiefgaragen zu meiden. Dann kam die Flut. Die 22-jährige Johanna ist eine der 135 Toten jener Nacht. Wäre ihr Tod vermeidbar gewesen?

Zweieinhalb Jahre ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Landrat Jürgen Pföhler und einen ehrenamtlichen Einsatzleiter. Der Landrat war verantwortlich für den Katastrophenschutz. Im April letztes Jahres verkündet die Staatsanwaltschaft auf einer Pressekonferenz dann: Sie werde keine Anklage erheben. 

Zwar hätten die Beschuldigten mehr und deutlicher warnen müssen, so der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler am 18. April 2024. "Allerdings ist bei diesen Warnungen die weitere Voraussetzung der Strafbarkeit nicht zu führen, nämlich (...) nachzuweisen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch ein optimales Warnverhalten der Tod von Menschen vermieden worden wäre."

Johannas Eltern kämpfen gegen Einstellung der Ermittlungen

Gegen diese Entscheidung kämpfen Johannas Eltern mit ihrem Anwalt und mit anderen Hinterbliebenen. Und sie bekommen Unterstützung. Immer mehr Experten zweifeln an der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz. 

Ahrflut-Ermittlungen eingestellt - Kritik an Staatsanwaltschaft nimmt zu

Gerd Gräff war früher der stellvertretende Leiter der Katastrophenschutzabteilung im rheinland-pfälzischen Innenministerium, Gutachter im Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtages und ist wohl einer der besten Kenner des Katastrophenschutzgesetzes im Land. Er kritisiert die Staatsanwaltschaft harsch: Sie hätte anklagen müssen.

Gräff beruft sich dabei auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention. "Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, wenn es Anhaltspunkte für ein staatliches Fehlverhalten gibt, das zu Todesopfern führt, dann gibt es eine Pflicht zur unabhängigen Überprüfung. Und eine Staatsanwaltschaft ist nicht unabhängig. Nur Richter sind das."

Anhaltspunkte für solch staatliches Fehlverhalten gab es zahlreiche, wie die Staatsanwaltschaft selbst feststellte. Der Landrat hatte es versäumt, den Katastrophenschutz gesetzeskonform aufzustellen. Das führte zu dem Chaos, das in der Flutnacht in der Einsatzzentrale in der Kreisverwaltung herrschte: Sie war unterbesetzt, heillos überfordert, schlecht vorbereitet - und agierte im Blindflug. Der ehemalige Landrat weist die Vorwürfe übrigens zurück.

Rechtsprofessorin: Begründung der Staatsanwaltschaft enthält einen "Denkfehler"

Aber die Staatsanwaltschaft steht auf dem Standpunkt, selbst wenn der Landrat die Menschen pflichtgemäß gewarnt hätte, hätten sie womöglich nicht reagiert, so der Leitende Oberstaatsanwalt Mannweiler: "Erfahrungsgemäß reagieren die meisten Menschen auf Warnungen erst dann, wenn die Gefahr augenfällig wird. Mitunter ist es dann aber leider zu spät."

Diese Argumentation wird von der renommierten Bonner Rechtsprofessorin Ingeborg Puppe scharf kritisiert: "Die Opfer hätten ein Recht gehabt, gewarnt zu werden. Also darf man die Möglichkeit, dass sie so leichtfertig sind, die Warnung in den Wind zu schlagen, nicht berücksichtigen. Da steckt der Denkfehler!" Deshalb müsse die Staatsanwaltschaft Anklage erheben, meint auch Puppe.

Katastrophenschutzexperte Gräff kritisiert die Staatsanwaltschaft auch in anderen Punkten. So hatte Chefankläger Mannweiler ausgeführt, dass die damals vorliegenden Hochwassergefahrenkarten nur eine "eingeschränkte Hilfe" für Evakuierungen geboten hätten. Da in der Flutnacht aber noch deutlich größere Flächen überflutet wurden, wäre es umso wichtiger gewesen, diese Karten für Evakuierungen zu berücksichtigen, so Gräff. Und das sei auch gesetzlich so geregelt.

Die Opfer hätten ein Recht gehabt, gewarnt zu werden. Also darf man die Möglichkeit, dass sie so leichtfertig sind, die Warnung in den Wind zu schlagen, nicht berücksichtigen. Da steckt der Denkfehler! Rechtsprofessorin Ingeborg Puppe

Lebenshilfehaus Sinzig hätte frühzeitig evakuiert werden müssen

Hätte der Landrat, wie vorgeschrieben, einen Verwaltungsstab in der Flutnacht eingerichtet, dann hätten die Experten dort sofort gesehen, dass etwa das Lebenshilfehaus in Sinzig unbedingt zu evakuieren sei. Denn die Warnmeldungen für Sinzig seien dramatisch gewesen, sagt Gräff. "Diese Warnmeldungen wurden noch einmal verschärft, so kurz nach 21 Uhr. Dann stieg die Prognose an auf 4,20 Meter." Bei diesem Pegelstand hätte klar sein müssen, dass das Gebäude mindestens bis zum Erdgeschoss überflutet werde. Und genau das passierte. 

Als die Flut um 2:30 Uhr das Lebenshilfehaus erreicht, können nur vier der geistig behinderten Bewohner von einem Mitarbeiter gerettet werden - 12 Bewohner im Erdgeschoss des Haupthauses ertrinken.

Beschwerde von Hinterbliebenen bislang ohne Erfolg

Anwalt Christian Hecken vertritt die Eltern von Johanna Orth und anderen Hinterbliebenen. Er hat die kritischen Gutachten von Gerd Gräff und Ingeborg Puppe mit seiner Beschwerde weitergeleitet an die Generalstaatsanwaltschaft. Doch bisher ohne Erfolg. Laut Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft sieht die Staatsanwaltschaft Koblenz keinen Anlass, ihre Ermittlungen wieder aufzunehmen. Die Generalstaatsanwaltschaft selbst dagegen prüfe noch und mit einer Entscheidung sei nicht vor Mitte des Jahres zu rechnen.

Zurück zu Johanna. In dem Chaos der Nacht wurde sie falsch gewarnt. Um 20:17 Uhr wusste man schon, dass auch der Aufenthalt in Erdgeschoss-Wohnungen nicht sicher ist, wie eine Katwarn-Meldung zeigt: "Meiden Sie Keller, Tiefgaragen und Erdgeschosswohnungen."

Johanna hätte eine richtige Warnung, das Erdgeschoss zu verlassen, absolut befolgt, so ihr Vater Ralph Orth. "Sie hätte mit uns nicht diskutiert, sie hätte mit keinem Feuerwehrmann diskutiert." Zumindest eines der 135 Opfer der Flut wäre also wohl sicher vermeidbar gewesen.

Sendung am Do., 24.4.2025 20:15 Uhr, Zur Sache Rheinland-Pfalz, SWR RP