
Rheinland-Pfalz Insolvenzverwalter Jens Lieser: "Es gibt keinen Grund für Hysterie"
Die Zahl der Insolvenzen in RLP ist laut Statistischem Landesamt 2024 gestiegen. Im Interview mit dem SWR ordnet der Koblenzer Insolvenzverwalter Jens Lieser die Entwicklung ein.
Jens Lieser ist seit 30 Jahren Insolvenzverwalter. Seine Kanzlei hat ihren Hauptsitz in Koblenz und mehrere weitere Standorte in Rheinland-Pfalz und weiteren Bundesländern. Lieser hat unter anderem als Sachwalter das Insolvenzverfahren des Nürburgrings und dessen Neustrukturierung betreut.
SWR-Aktuell: Sie sind seit 30 Jahren Insolvenzverwalter und überblicken einen langen Zeitraum. Jetzt ist das Thema Insolvenzen aktuell in aller Munde. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist 2024 gestiegen, auch in Rheinland-Pfalz. Wie dramatisch ist die Entwicklung Ihrer Meinung nach?
Jens Lieser: Die Menschen sind verunsichert und haben dadurch einen gewissen Vertrauensverlust erlitten. Deshalb denken alle, dass es im Land schlecht läuft. Tatsache ist aber, dass wir von historisch niedrigen Zahlen aus der Coronazeit kommen. Da hören sich natürlich Steigerungen von 20 oder 30 Prozent dramatisch an. Tatsächlich nähern wir uns aktuell aber einem völlig normalen Maß an Insolvenzen, die für die deutsche Volkswirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer durchschnittlich waren. Schauen wir mit einem langfristigen Blick, befinden sich die Zahlen der Unternehmensinsolvenzen aktuell nicht auf einem Höchststand, sondern wir bewegen uns im Normalbereich. Natürlich ist auch in Rheinland-Pfalz seit der Corona-Zeit die Zahl der Insolvenzen wieder gestiegen, aber aktuell sind sie wieder leicht rückläufig. Allerdings ist das nur eine Momentaufnahme. Eine Entwicklung für das Gesamtjahr 2025 lässt sich derzeit nicht prognostizieren. Tatsache ist: Man muss die Kirche im Dorf lassen. Es gibt keinen Grund, an der Insolvenzfront in Hysterie auszubrechen.
SWR-Aktuell: Sie sagen, die Wahrnehmung der Insolvenz-Zahlen habe auch etwas mit dem Thema Vertrauensverlust zu tun. Können Sie das genauer erklären?
Jens Lieser: Die Menschen spüren, dass wir uns in einem erheblichen und auch dramatischen Strukturwandel befinden. Die Welt verändert sich gerade sehr stark. Das erleben wir mit Donald Trump, mit Putin und dem Ukrainekrieg - aber auch in der Automobilindustrie durch den Wandel zur Elektromobilität. All das führt dazu, dass Menschen verunsichert sind.
SWR Aktuell: Das Thema Insolvenz wird von vielen Menschen erst einmal als eher negativ wahrgenommen. Inwiefern stecken darin aber aus Ihrer Sicht auch positive Aspekte?
Jens Lieser: Es ist natürlich für einen Unternehmer schlimm, wenn er zum Insolvenzrichter gehen muss. Das bedeutet aber nicht, dass das Unternehmen vom Markt verschwinden muss. Entscheidend ist, dass das Unternehmen Qualifikationen und Kompetenzen aufweist, die es zukunftsfähig machen - beispielsweise, dass ein engagierter Mitarbeiterstamm vorhanden ist oder ein erheblicher Auftragsbestand oder ein qualitativ gutes und nachgefragtes Produkt. Wenn diese Faktoren vorliegen, lässt sich auch in der Insolvenz ein solches Unternehmen erhalten und weiterführen. Insolvenzen gehören zu unserer Volkswirtschaft und sie sind für das Funktionieren unserer Wirtschaft ein wichtiges Regulativ. Eine Marktwirtschaft kann nur gesund funktionieren, wenn schwache Unternehmen, die kein zukunftsfähiges Geschäftsmodell haben, aus dem Wirtschaftsprozess ausscheiden. Dafür entstehen andererseits täglich neue Geschäftsmodelle, die wiederum Arbeitsplätze schaffen.
SWR Aktuell: Warum geraten Unternehmen in die Insolvenz?
Jens Lieser: Es gibt nicht einen Grund, sondern es gibt diverse Ursachen, die in eine Insolvenz führen, wie z. B. Fehlinvestitionen, eine fehlerhafte Geschäftsstrategie, Fachkräftemangel oder gestiegene Kosten für Rohstoffe und Energie. Insolvenzen sind in der Regel immer die Summe der Aneinanderreihung von unternehmerischen Fehlern. Man muss ganz klar sagen: Für die Insolvenz ist der Unternehmer verantwortlich, nicht die Mitarbeiter und nicht der Markt, sondern der Unternehmer, der den Betrieb führt und strategische Fehler gemacht hat. Ob die jetzt vorwerfbar sind, will ich damit gar nicht bewerten. Oft wurden unternehmensstrategische Fehler gemacht, die die Geschäftsführung vielleicht nicht so einfach vorhersehen konnte. So haben zum Beispiel der Ukrainekrieg und die Coronapandemie unterbrochene Lieferketten sowie hohe Rohstoff- und Energiepreise nach sich zogen. Aber in der Nachschau kann man relativ gut identifizieren, wo die Geschäftsführung in der Vergangenheit anders hätte entscheiden müssen, um das Unternehmen besser und robuster aufzustellen. Eine Insolvenz ist eine Zäsur und sie hilft, damit umzugehen. Sie eröffnet die Chance auf einen Neustart, sofern die Rahmenbedingungen, wie ich sie beschrieben habe, gegeben sind.
SWR Aktuell: Gilt das grundsätzlich für jedes Untermehmen?
Jens Lieser: Als Insolvenzverwalter und Sanierungsexperte gehört auch zur Wahrheit, dass man nicht jedes Unternehmen retten kann. Also geht es darum, den Kern des Unternehmens zu erhalten und fortzuführen, der zukunfts- und wettbewerbsfähig sowie robust und solide aufgestellt ist. Das schaffen wir mit unserem modernen Insolvenzrecht. Aber genauso hat das Insolvenzrecht eine sogenannte Ordnungsfunktion. Es macht Sinn, dass insolvente Unternehmen geschlossen werden, die nicht wettbewerbsfähig sind. Das hat eine Bereinigungsfunktion und führt letztlich insgesamt zu einer stärkeren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft.
SWR Aktuell: Wie steht Ihrer Meinung nach Rheinland-Pfalz beim Thema Insolvenzen dar?
Jens Lieser: Ich denke, wir bewegen uns da im Mittelfeld. Trotz der Entwicklung, die Rheinland-Pfalz in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, gehören wir im Bundesvergleich immer noch zu den strukturschwächeren Ländern. In Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen oder in Hamburg herrscht eine ganz andere wirtschaftliche Dynamik.
SWR Aktuell: Viele kleinere und größere Betriebe in Rheinland-Pfalz sind Automobilzulieferer - wie sehen Sie da die weitere Entwicklung?
Jens Lieser: Wir hängen nicht nur in Rheinland-Pfalz, sondern bundesweit stark von der Automobilindustrie ab. Die Automobilhersteller und die Automobilzulieferer gehören zu den wichtigsten Wirtschaftsbereichen und da müssen wir dran arbeiten, diese Schlüsselindustrie zu stärken. Und natürlich haben wir in Rheinland-Pfalz zahlreiche Unternehmen, die im Bereich Automotive tätig sind. Diese aus unterschiedlichen Gründen schwächelnde Branche hat in der Automobilabsatzkrise einen hohen Restrukturierungsbedarf und einige Unternehmen könnten von einer Insolvenz betroffen sein.
SWR Aktuell: Was ist mit der Baubranche im Land?
Jens Lieser: Die Baubranche befindet sich in der Krise. Seit Jahren leidet sie an steigenden Baukosten, Materialengpässen, Fachkräftemangel und an gestiegenen Bauzinsen. Dies führte zum Platzen der Immobilienblase. Projektentwickler mussten viele Projekte einstampfen. Sie rechnen sich schlicht nicht mehr. Das hat manche Bauträger und Projektentwickler bereits in die Insolvenz geführt und wird den ein oder anderen in der Branche noch treffen. Wie viele Wettbewerber aus der Branche in die Insolvenz geraten, lässt sich derzeit nicht vorhersehen.
SWR Aktuell: Wie viele der Unternehmen, die Sie in Insolvenzverfahren beraten, schaffen so eine Restrukturierung und können wieder am Markt bestehen?
Jens Lieser: Wenn in einem Unternehmen der Geschäftsbetrieb uneingeschränkt läuft, das Unternehmen Umsatz erwirtschaftet und die Mitarbeiter alle noch an Bord sind, dann schaffen wir es in der Regel in 70 bis 80 Prozent der Fälle, die Unternehmen am Markt zu halten und in eine gute Zukunft zu führen. Wenn der Geschäftsbetrieb nicht eingestellt ist, bietet das moderne Insolvenzrecht in Deutschland viele Möglichkeiten, ein Unternehmen erfolgreich zu sanieren. Aber wenn der Geschäftsbetrieb eingestellt ist, es kein Vertrauen der Marktbegleiter mehr gibt und letztlich das Unternehmen keine Aussicht darauf hat, eine Lösung für einen Weiterbetrieb zu finden, dann muss das Insolvenzrecht seine Ordnungsfunktion erfüllen. Wenn das Unternehmen keine Marktberechtigung mehr hat, ist die Schließung und Abwicklung die Konsequenz. Das gehört zu einer funktionierenden Marktwirtschaft und ist kein dramatischer Prozess.
SWR Aktuell: Ich habe rausgehört, dass Sie die Lage bezüglich der Insolvenzen aktuell nicht als dramatisch bewerten und dafür plädieren, das Thema etwas gelassener anzugehen, oder?
Jens Lieser: Wir bewegen uns im historischen Mittel. In den letzten zwei, drei Jahren lag die Zahl der Unternehmensinsolvenzen zwischen 18.000 und 22.000 pro Jahr bundesweit. Das ist für Deutschland völlig normal. 2004 oder 2005 lagen wir bei 40.000 Unternehmensinsolvenzen, da hatten wir eine ganz andere Situation. Aber ja, wir müssen wachsam sein. Das bedeutet nicht, dass wir uns zurücklehnen dürfen. Wir müssen jetzt die Herausforderungen anpacken und uns den Marktveränderungen stellen. Aber es ist nicht so, dass wir in Sack und Asche gehen müssen. Rheinland-Pfalz auch nicht.
Sendung am Di., 22.4.2025 6:00 Uhr, SWR4 RP am Morgen, SWR4 Rheinland-Pfalz