Johannes Kiess arbeitet am Else-Frenkel-Brunswick-Institut für Demokratieforschung in Sachsen.

Sachsen Extremismus-Forscher sieht "Neonazi-Trend unter sächsischen Jugendlichen"

Stand: 17.04.2025 05:00 Uhr

Immer öfter geraten Jugendliche in Sachsen durch rechtsextreme Aktionen in die Schlagzeilen – zuletzt bei einem Auschwitz-Besuch. Warum rechte Symbolik für viele kein Tabubruch mehr ist und wie die Schulen gegensteuern können, erklärt der Rechtsextremismus-Experte Johannes Kiess im Interview mit MDR SACHSEN.

Von MDR SACHSEN

An Sachsens Schulen häufen sich rechtsextreme Vorfälle: Hakenkreuzschmierereien, Bedrohungen, antisemitische Äußerungen im Unterricht. Allein in dieser Woche wurden zwei Fälle medial bekannt: Im erzgebirgischen Oelsnitz wurde eine Lehrerin von Rechtsextremen bedroht.

Und Neuntklässler einer Görlitzer Oberschule posierten bei einer Bildungsreise vor dem Tor zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit dem von Neonazis häufig verwendeten White-Power-Zeichen. Anschließend veröffentlichten sie das Bild in den sozialen Medien. MDR SACHSEN hat den Leipziger Rechtsextremismus-Experten Johannes Kiess zu dem Problem befragt.

Neonazi-Geste von Görlitzer Schülern in Auschwitz: Schulleitung reagiert

Zur Person
Dr. Johannes Kiess ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er ist stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts an der Universität Leipzig und forscht zu Rechtsextremismus, Antisemitismus und politischer Mobilisierung. Bekannt ist er unter anderem durch seine Mitarbeit an den Leipziger Autoritarismus-Studien.​

MDR SACHSEN: Herr Kiess, vier Jugendliche einer Görlitzer Oberschule haben in Auschwitz mit der White-Power-Geste für ein Foto posiert. Was bedeutet diese Geste?

Johannes Kies: Das White-Power-Symbol soll die Überlegenheit der weißen Rasse gegenüber anderen sogenannten Rassen ausdrücken. Es ist ein Kennzeichen der internationalen extremen Rechten und insbesondere bei Neonazis in den USA, aber auch in Deutschland, sehr beliebt.

Herr Kiess, gibt es einen Trend zum Rechtsextremismus bei Jugendlichen?

Wie erklären Sie es sich, dass Jugendliche ein solches Bild aufnehmen und sich damit so sicher fühlen, dass sie es auf Instagram teilen?

Wir beobachten deutschlandweit mit Fokus auf Ostdeutschland und insbesondere Sachsen Raumgewinne von Neonazis. Das bedeutet, dass sie in diesen Regionen schon so normalisiert sind, dass es ihnen völlig okay erscheint, auch in unterschiedlichen sozialen Milieus rechtes Gedankengut zu verbreiten. Es gilt vielen als normal, die AfD zu wählen, eine gesichert rechtsextreme Partei. Und dann wird eben auch diese Provokation mit solchen Gesten sogar in Auschwitz gar nicht mehr als große Normverletzung durch die Jugendlichen wahrgenommen.

Sie rechnen damit, dass es sozial akzeptiert ist, was sie da tun. Johannes Kies | Rechtsextremismus-Experte

Sie rechnen damit, dass es sozial akzeptiert wird, was sie da tun. Und das wirft dann ein wirklich besorgniserregendes Bild zurück auf die Gesellschaft. Was dramatischer ist als das Verhalten dieser Jugendlichen, ist eigentlich, dass Jugendliche sich das trauen, so etwas zu tun. Denn das sagt sehr viel über die Region aus, in der sie aufgewachsen sind. Und eventuell eben auch über die Schule und ihr familiäres Umfeld.

Johannes Kiess: "Wir beobachten Raumgewinne von Neonazis"

Beobachten Sie, dass solche Vorfälle häufiger vorkommen?

Wir haben immer wieder Berichte über solche Vorfälle in Gedenkstätten der Judenvernichtung, in Buchenwald oder an anderen Orten in Deutschland, wo Neonazis gezielt mit Szene-üblicher Kleidung hingehen. Das wird dann meistens auch entdeckt und die Leute werden zur Rede gestellt und bekommen ein Hausverbot. Und darüber wird sich dann lustig gemacht. Also genau diese Provokation, die hier auch passiert ist, beobachten wir immer wieder. Es gibt da eine gewisse Dynamik, weil sich dann auch immer Nachahmungstäter finden.

Was ist das Ziel solcher Aktionen?

Wenn wir uns die extreme Rechte als Bewegung angucken, dann geht es darum, Raumgewinne zu zementieren. Also dort, wo man sich ohnehin schon relativ sicher fühlt, wo Ausländerfeindlichkeit, Rassismus schon im Alltag verankert sind, versucht man noch stärker diese Dominanz, diese zumindest gefühlte Hegemonie zu zementieren.

Provozieren Rechtsextreme häufiger in Gedenkstätten wie Auschwitz?

Beobachten Sie einen Trend unter sächsischen Jugendlichen, rechtsextreme Symbole zu verwenden?

Diese rechtsextreme Jugendkultur gibt es hier schon seit der Wende und auch davor gab es sie schon. Aber in den letzten ein, zwei Jahren gibt es noch mal eine neue Dynamik, weil einzelne Akteure gezielt versuchen, über die sozialen Medien zu mobilisieren.

Seit ein bis zwei Jahren gibt es einen Neonazi-Trend Johannes Kiess | Rechtsextremismus-Experte

Man kann sagen, dass es seit ein bis zwei Jahren einen Neonazi-Trend bei sächsischen Jugendlichen gibt. Das kommt natürlich nicht aus dem Nichts, es ist zum Beispiel in Gemeinden mit entsprechenden bereits existierenden Strukturen auffälliger, aber wir beobachten eine aktuelle Dynamik. Das ist insbesondere ein Problem an Schulen, wo wir sehr aufpassen müssen, dass diese nicht mit dieser neonazistischen Raumnahme alleine gelassen werden.

Teilnehmende einer rechtsextremen Versammlung im Hauptbahnhof zeigen das neonazistische Symbol von white power (dt. "weiße macht") mit den Händen.

Neonazis zeigen bei einem Aufmarsch gegen den CSD in Leipzig im August das "White-Power-Zeichen".

Bei den Aufmärschen von Neonazis gegen die Christopher Street Days letztes Jahr hat sich das dann auch auf der Straße manifestiert. Da kann man schon von einer besorgniserregenden Dynamik sprechen. Denn es wirkt ja fast, als würden die sich gar nichts mehr dabei denken, sich so öffentlich zum Nationalsozialismus zu bekennen. Und das haben wir davor so in diesem Ausmaß nicht gesehen.

Ist das ein besonderes Problem in Sachsen oder ist das ein bundesweites Problem?

Natürlich ist es auch ein bundesweites Problem. Aber wir haben in Ostdeutschland und in Sachsen durchaus einen Schwerpunkt, wirklich einen Hotspot des Rechtsextremismus.

Versagen die Schulen bei der Bildung und Erziehung der Jugendlichen?

Man muss vielleicht vorwegschicken, dass die Schulen mit zehn Prozent Unterrichtsausfall und einer unzureichenden materiellen Ausstattung dieses Problem nicht alleine lösen können. Es braucht eine Landespolitik, die die Schulen entsprechend ausstattet und auch einen klaren Schwerpunkt auf die politische Bildung, auf das Demokratielernen im Unterricht setzt. Da müsste viel mehr passieren.

Und gleichzeitig muss man auch die Schulen und die Schulleitungen und auch die einzelnen Lehrkräfte durchaus in die Verpflichtung nehmen. Es ist eine Aufgabe für alle.

Wie sollten die Schulen reagieren?

Den Jugendlichen zu sagen: 'Das dürft ihr nicht, das war falsch', reicht nicht aus. Sie zu bestrafen, einen Schulverweis und Sozialstunden zu geben, wie es jetzt wohl geschehen ist, das ist wichtig, um ein Zeichen zu setzen.

Es reicht nicht, die Jugendlichen zu bestrafen. Johannes Kiess | Rechtsextremismus-Experte

Aber dann muss die eigentliche Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern anfangen: Es muss klargemacht werden, warum dieses Verhalten nicht okay ist und warum ein demokratischer, fairer, zugewandter Umgang miteinander wichtig ist. Man kann sich dazu auch von außen Hilfe holen in Form von Beratung und Weiterbildungsangeboten.

MDR (jwi)