
Thüringen Der Start der Brombeer-Koalition: Zwischen Aufbruch, Streit und offenen Fragen
"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne." Gilt das Hesse-Zitat auch für die neue Thüringer Landesregierung? Die Brombeer-Koalition aus CDU, BSW und SPD hatte sich selbst bis Ostern Zeit gegeben. 50 Vorhaben sollten in den ersten 100 Tagen angepackt werden. Darunter: Bürokratie abbauen, Wirtschaft entfesseln und Unterrichtsausfall senken. Themen, die zwar durchaus die Lebensrealität der Menschen im Land berühren. Themen, die aber auch nicht danach klingen, als könne man sie in 100 Tagen lösen.
Eines ist sicher: Politik zu inszenieren – das vermag die Brombeer-Koalition besser als alle Vorgängerregierungen. Industrie-Kulisse und eigens kreierte Brombeer-Törtchen als Rahmen für die Unterschrift des Koalitionsvertrages. LED-Hintergrund als Tuning des sonst schnöden Sitzungssaales im Landtag bei der Inthronisierung der neuen Minister. Darunter macht es die Brombeere nicht, wenn es um die Selbstvermarktung geht. Wie das wirkt, liegt im Auge des Betrachters. Kritiker sprechen von Show und Folklore. Befürworter sehen einen neuen Stil und Aufbruchstimmung.
Letztere zu erzeugen, war das erklärte Ziel von Neu-Ministerpräsident Mario Voigt (CDU). Das Erwartungsmanagement: Auf hoch gesetzt. Die damit einhergehende Konsequenz: Druck für Voigt und die Brombeere, liefern zu müssen. 50 Vorhaben in 100 Tagen umsetzen zu wollen, hatte Voigt angekündigt. Nach dieser Zeit, am Ende der Startphase – andere sprechen von Schonfrist – ist das Bild jedoch gemischt: Während Regierungsvertreter Erfolge betonen, melden sich Kritiker aus Opposition, Verbänden und Kommunen lautstark zu Wort.
Regierungsarbeit zwischen Werkbank und Wahlversprechen
Für die eigene Bilanz setzte die Brombeere zunächst auf inzwischen Bewährtes. Auf Inszenierung. Die große Bilanzpressekonferenz: Nicht etwa in einem Ministerium abgehalten, sondern verlegt in eine Ausbildungswerkstatt in Erfurt. Symbolisch für das neue Selbstverständnis: Politik soll wieder anpacken, so Ministerpräsident Voigt. Von 50 Vorhaben im 100-Tage-Programm seien viele bereits umgesetzt oder angestoßen worden, darunter die Einrichtung des Hilfsfonds für Kliniken, die vereinfachte Vergabe öffentlicher Aufträge, der Einstellungs-Turbo im Bildungsbereich sowie ein kommunales Finanzpaket über 155 Millionen Euro.
Tatsächlich attestieren Wirtschaftsvertreter der neuen Regierung einen neuen Geist. Matthias Kreft, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Wirtschaft Thüringens, lobt die neue Kommunikationskultur und betont: "Wir sind ins Machen gekommen." Arbeitsgruppen seien gebildet worden, die Bürokratie solle abgebaut und die Digitalisierung vorangetrieben werden. Kreft sieht einen klaren Bruch in Arbeits- und ideologischer Herangehensweise zur Vorgängerregierung.
Personalpolitik unter Beschuss
Doch nicht alles läuft rund. Die Linke beispielsweise erhebt schwere Vorwürfe: Es gehe der Koalition weniger um Inhalte, vielmehr um Versorgungsposten für abgewählte Bürgermeister. Besonders Umweltminister Tilo Kummer, in Hildburghausen einst unglücklich aus dem Amt geschieden, sowie die neuen Staatssekretäre Andreas Bausewein (ehemaliger OB von Erfurt) und Julian Vonarb (früher OB von Gera) stehen im Fokus. Finanzministerin Katja Wolf (BSW) zeigt sich "zutiefst entsetzt" über die Vorwürfe und verteidigt die Auswahl nach "Eignung, Leistung und Befähigung". Auch Voigt hält dagegen: Die neuen Kräfte brächten wertvolle Verwaltungserfahrung mit.
Scharfe Kritik kommt aber ebenfalls vom Bund der Steuerzahler. Dieser sieht im wachsenden Stellenapparat der Ministerien einen Widerspruch zu den Sparversprechen. Thüringen habe gemessen an der Bevölkerung ohnehin viele Abgeordnete. Lob an die Landesregierung gibt es vom Steuerzahlerbund derweil für die Investitionen in kommunale Infrastruktur und den neuen Krankenhausfonds.
Gesundheitswesen: Viel Hoffnung, noch wenig Klarheit
Fakt ist: Die Krankenhäuser im Freistaat stehen unter Druck. Gundula Werner, Vorsitzende der Thüringer Landeskrankenhausgesellschaft, spricht von einer "schwierigen Lage". Zwar erkenne sie das Engagement der Landesregierung - insbesondere bei der geplanten Aufstockung des Krankenhaus-Transformationsfonds auf 100 Millionen Euro bis 2027 - doch bleibe die Unsicherheit groß. Etwa bei der Umsetzung der Bundesreform, die allerdings noch auf sich warten lässt und das Schweben im Ungewissen daher kaum der Thüringer Landesregierung angelastet werden kann. Die Herausforderung sei komplex, so Werner: Betten abbauen, ambulante Versorgung ausbauen "und das mit knappen Ressourcen und wenig Planungssicherheit".
Bildung: Zwischen Erwartung und Ernüchterung
Kathrin Vitzthum, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, zeigt sich gespalten. Zwar lobt sie die von der Brombeer-Koalition geschaffene, neue Struktur bei den Bewerber-Coaches in den Schulämtern, wodurch Anwärter nur noch einen und nicht mehr mehrere Ansprechpartner haben und Einstellungsverfahren geregelter ablaufen. Doch, so Vitzthum: Die große Lehrerlücke werden dadurch nicht geschlossen. Die GEW-Chefin ergänzt, dass auch wenig Anderes zu erwarten gewesen sei. Denn "im Bildungsbereich sind schnelle Erfolge einfach nicht zu erzielen." Und weiter: Der Unterrichtsausfall werde bislang nur durch bekannte Methoden wie Kooperationsverbände bekämpft.
Besonders kritisch sieht sie die neue Schulordnung, deren Reform zwar nicht Teil des 100-Tage-Programms war, aber die politische Stimmung im Land dennoch nachhaltig beeinflusst hat. Das von Bildungsminister Christian Tischner (CDU) angekündigte Einführung von Kopfnoten in fast allen Klassenstufen und die Aufwertung der Regelschule bedeuteten "eher einen pädagogischen Rückschritt", so Vitzthum.
Polizei und Sicherheit: Belastungsgrenze erreicht?
Mandy Koch, Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Thüringen, erkennt zwar einige erfolgversprechende Ansatzpunkte im Regierungsprogramm, etwa die geplante Abschiebehaft in Arnstadt oder die angekündigte Novelle des Polizeiaufgabengesetzes. Doch vieles bleibe bislang nebulös. Die Polizei sei am Limit, zusätzliche Aufgaben seien ohne weiteres Personal kaum machbar. Bei der von Innenminister Georg Maier (SPD) angekündigten Strukturreformen fühlt sich die Gewerkschaft übergangen. "Das schafft nicht gerade Vertrauen", so Koch.
Kommunen: Der Ruf nach mehr Unterstützung
Die parteilose Landrätin des Ilmkreises, Petra Enders, fordert mehr Engagement des Landes bei zentralen Infrastrukturfragen. Am Erfurter Kreuz, dem größten Industriegebiet Thüringens, drohten Blockaden, weil Verkehr, Wohnen und Planung nicht mit dem wirtschaftlichen Wachstum Schritt hielten. Auch beim Thema Abschiebehaft in Arnstadt kritisiert sie die mangelhafte Abstimmung mit den Landkreisen. Dennoch erkennt sie an: Die neue Regierung signalisiert immerhin Gesprächsbereitschaft.
Ein Land in Erwartung
Thüringen steht nach den ersten 100 Tagen unter der neuen Koalition zwischen Hoffnung und Realität. Viele Maßnahmen sind angestoßen, neue Töne werden angeschlagen, doch die Umsetzung bleibt die große Herausforderung. Oder, wie es die Landesregierung selbst formulierte: "Politik muss liefern". Die kommenden Monate werden zeigen, ob der Brombeer-Anstrich dauerhaft trägt oder sich als dünner Lack entpuppt.
In der Sendung Fakt ist! Aus Erfurt können Sie zum Thema "Die Startbilanz der Brombeere" mitdiskutieren
Welche Probleme hat die Thüringer Landesregierung schon erfolgreich gelöst? Was sind die Hauptkritikpunkte an ihrer bisherigen Arbeit? Welche Spielräume hat eine Landesregierung überhaupt? Diese und andere Fragen diskutieren interessierte Bürger, Gewerkschaftsvertreter und politisch und wirtschaftlich Verantwortliche mit dem Thüringer Ministerpräsidenten Dr. Mario Voigt.
Zu sehen ist Fakt ist! Aus Erfurt am Mittwochabend ab 20:15 Uhr im Livestream auf MDR.DE oder im MDR FERNSEHEN.
Bereits ab 18:00 Uhr haben Sie die Möglichkeit, im Chat mitzudiskutieren: