
Geburtskliniken Wenn Risikoschwangere im falschen Krankenhaus entbinden
Ein Drittel aller Neugeborenen in Deutschland kommt in einer Klinik der niedrigsten Versorgungsstufe zur Welt. Recherchen zeigen: Einige dieser Level IV-Kliniken nehmen entgegen der Richtlinie Risikoschwangere auf. Das kann für Mutter und Kind gefährlich sein.
Felix Tannigel ist sieben Jahre alt. Er sitzt im Rollstuhl, kann nicht sprechen, er wird nach Ansicht von Experten nie ein eigenständiges Leben führen können. Denn Felix hat bei seiner Geburt schwere Hirnschäden erlitten. Seine Eltern streiten vor dem Landgericht Aurich mit dem Borromäus Hospital im niedersächsischen Leer.
Erst Jahre nach Felix' Geburt ist seiner Mutter Suleika Tannigel durch Gutachten bewusst geworden: Sie hätte in einem besser ausgestatteten Krankenhaus mit Kinderärzten entbinden sollen. Ihr macht das sehr zu schaffen: "Mir wurde in der Geburtsklinik nicht gesagt, dass ich eine Risikoschwangere bin, mir wurde nicht gesagt, dass Felix in meinem Bauch in Gefahr ist und es hieß auch nicht, dass ein Kaiserschnitt ab einem bestimmten Zeitpunkt die bessere Option gewesen wäre."
Gerichtsgutachten belegen: Suleika Tannigel wurde vor der Geburt ihres Sohnes nicht ausreichend über Risiken aufgeklärt. Das Borromäus Hospital, eine Geburtsklinik der niedrigsten Versorgungsstufe, verfügte 2018 über keine eigene Kinderstation. Laut Gutachten mussten Pädiater aus dem benachbarten Kreiskrankenhaus angefordert werden. Sie wurden erst nach der Entbindung alarmiert und trafen 45 Minuten nach der Geburt von Felix ein.
Suleika Tannigel war laut Gerichtsgutachten eine Risikoschwangere. Die behandelnden Ärzte erkannten demnach weder, dass Felix im Bauch der Mutter schon länger nicht gut versorgt war, noch, dass es zu wenig Fruchtwasser gab. Auf Anfrage teilt die Klinik mit, es habe keine Anzeichen für eine Risikoschwangerschaft gegeben. Zu dem laufenden Verfahren könne man keine Auskünfte erteilen.
Drei Gutachter sind sich einig: Felix hätte Stunden früher per Kaiserschnitt entbunden werden müssen, dann wäre es "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" nicht zu den folgenschweren Hirnschäden gekommen.
Einige Level IV-Geburtskliniken nehmen Risikoschwangere auf
Level IV-Geburtskliniken sind Krankenhäuser, in denen in der Regel nicht rund um die Uhr Kinderärzte oder fertig ausgebildete Gynäkologen vor Ort sind. Pädiatrische Abteilungen oder Kinderintensivstationen gibt es dort nicht. Diese Level IV-Kliniken sollen nach Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) keine Risikoschwangeren aufnehmen.
Nicht jede Erstgebärende über 35 gilt hier als Risikoschwangere, es geht um erhebliche Risikofaktoren mit Auswirkungen auf Geburt und Kind, wie zum Beispiel extremes Übergewicht, Verdacht auf Plazentalösung oder schwere Formen der Schwangerschaftsvergiftung.
Geht es nach der Richtlinie des höchsten Gremiums der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, sollen diese Frauen in Krankenhäusern einer höheren Versorgungsstufe entbinden, also beispielsweise in einer Uniklinik mit Kinderintensivstation. Allerdings sind diese Richtlinie wie auch fachliche Leitlinien nur Empfehlungen.
Einige Level IV-Geburtskliniken halten sich nicht daran, wie Recherchen von BR, MDR, SWR und RBB belegen. Zu 17 Fällen liegen den Reporterinnen interne Unterlagen und Gutachten vor, wonach offenbar Risikoschwangere entgegen der Richtlinie aufgenommen wurden. Die Krankenhäuser befinden sich nicht nur in Niedersachsen, sondern auch etwa in Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Mediziner und Rechtsanwälte kennen weit mehr Urteile und Verdachtsfälle. Reporterinnen fanden Fälle von geschädigten und toten Kindern, die in Level IV-Geburtskliniken zur Welt kamen. Viele der Fälle sind noch nicht gerichtlich geklärt.
Experte: Künftig keine Geburten ohne Anwesenheit eines Kinderarztes
Geht es nach Mario Rüdiger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin, sollte es künftig gar keine Geburten mehr in Level IV-Kliniken geben: "Unter der Geburt kann es immer zu Problemen kommen. Es kommt darauf an, dass die Kinder ausreichend versorgt werden. Und deswegen kann ich es nicht nachvollziehen, wie eine Geburt ablaufen kann, ohne dass ein Kinderarzt da ist."
Mario Rüdiger ist Chef der Neonatologie und Kinderintensivstation am Universitätsklinikum Dresden und kooperiert mit Krankenhäusern etwa in Görlitz und Bautzen, um Risikoschwangere in der Uniklinik zu entbinden und die Neugeborenen dort zu versorgen. Später werden Mutter und Kind dann in die niedrigere Versorgungsstufe zurückverlegt. Dass Sachsen den jüngsten Zahlen zufolge neben Schleswig-Holstein die bundesweit niedrigste Säuglingssterblichkeit hat, führt er darauf zurück, dass im Freistaat Level IV-Häuser geschlossen wurden und man die Geburtshilfe zentralisiert hat.
Level IV-Geburtskliniken unterschiedlich auf Bundesländer verteilt
Von den 568 Krankenhäusern, die in Deutschland Geburtshilfe anbieten, sind 251 Level IV-Geburtskliniken. Das geht aus einer Umfrage unter den Bundesländern durch BR, MDR, SWR und RBB hervor. Diese sind demnach völlig unterschiedlich auf die Bundesländer verteilt: In Ostdeutschland gibt es kaum solche Level IV-Kliniken. Nach Ansicht von Experten kommen hier zwei Faktoren zum Tragen: Alte DDR-Strukturen und eine bessere Zentralisierung. Als einziges westdeutsches Bundesland hat das Saarland keine solchen Geburtsklinik mehr. Spitzenreiter ist Nordrhein-Westfalen mit 65 Level IV-Geburtskliniken, gefolgt von Bayern mit 51 Häusern der niedrigsten Versorgungsstufe. In fast allen Bundesländern haben in den vergangenen fünf Jahren solche Geburtskliniken geschlossen.
Geburtshilfe in Wasserburg am Inn ist Fall für die Staatsanwaltschaft
In Bayern ermittelt die Staatsanwaltschaft Traunstein zur Geburtshilfe in Wasserburg am Inn, einem RoMed Klinikum. Der Anfangsverdacht lautet auf einen Fall der fahrlässigen Tötung und mindestens elf Fälle von fahrlässiger Körperverletzung. Ermittler haben im vergangenen August mehr als 200 Akten sichergestellt, die nun begutachtet werden. Sie alle betreffen Kinder, die zwischen Oktober 2020 und Ende Januar 2023 in der Wasserburger Level IV-Geburtsklinik zur Welt kamen und anschließend auf Intensivstationen anderer Krankenhäuser versorgt werden mussten. Die Ermittlungen richten sich gegen eine Medizinerin, die die Klinik Anfang 2023 verließ. Es gilt die Unschuldsvermutung. Ihr Anwalt betont auf Anfrage, alle bisherigen Gutachten hätten kein medizinisches bzw. fahrlässiges Fehlverhalten feststellen können.
Nach BR-Informationen sind unter den Verdachtsfällen in Wasserburg einige Risikoschwangere, die man den Richt- und Leitlinien zufolge in Kliniken einer höheren Versorgungsstufe hätte verlegen sollen. Ein Beispiel ist eine stark übergewichtige Patientin mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 50, bei der die Geburt eingeleitet wurde. In solchen Fällen empfiehlt die Adipositas-Leitlinie, dass Frauen ab einem BMI von über 35 vor der Schwangerschaft in einem Krankenhaus einer höheren Versorgungsstufe entbinden sollten. Das Neugeborene musste verlegt und intensivmedizinisch betreut werden. Mehrere Experten schätzen einen solchen Fall als besonders hohes Risiko ein. Auch ein von der Klinik beauftragter Gutachter bewertet diesen Fall kritisch.
Die RoMed Kliniken schreiben auf Anfrage, in Wasserburg erfolgten grundsätzlich Entbindungen ab der 36. Schwangerschaftswoche, bei denen keine Komplikationen zu erwarten seien. Andernfalls erfolge der Verweis in eine Klinik mit höherer Versorgungsstufe.
Deutsche Geburtshilfe im Vergleich nur Mittelfeld
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe warnt seit Jahren vor einem "schlechteren perinatalogischen Outcome" kleinerer Krankenhäuser. Das bedeutet, dass auch in Level IV-Kliniken mehr Kinder zu Schaden kommen oder bleibende Schäden zu befürchten sind. Auch jetzt, schreibt die Fachgesellschaft auf Anfrage, stehe sie vollumfänglich hinter der G-BA-Richtlinie.
Eine aktuelle Studie von führenden Perinatalmedizinern zeigt, dass Kinder, die nach der Geburt etwa wegen eines Sauerstoffmangels in eine Kinderklinik verlegt werden müssen, geringere Chancen haben, sich gesund zu entwickeln, als Kinder, die in einem Krankenhaus mit Spezialisten für Neugeborene zur Welt kommen. Die Krankenhaus-Regierungskommission empfiehlt vergangenes Jahr in ihrer 12. Stellungnahme: "Geburtshilfliche Abteilungen und Kliniken perspektivisch grundsätzlich an Standorten mit Pädiatrie und neonatologischer Versorgungskompetenz". Deutschland liege nach OECD-Daten in der Qualität der perinatologischen Versorgung im europäischen Mittelfeld, bei der Säuglingssterblichkeit sogar darunter.
Der Gynäkologe Thorsten Fischer leitet die Geburtshilfe an den Landeskliniken Salzburg, einer österreichischen Uniklinik, und verweist auf eine Reihe anderer Länder, die ihre Geburtshilfe erfolgreich umstrukturiert haben: Etwa Kanada, Australien, Portugal oder Schweden und Norwegen: "Norwegen ist ein sehr gutes Beispiel. Sie haben einen Großteil der Kleinkliniken geschlossen. Wozu führte das? Drei von tausend Frauen haben ungewollt auf dem Weg ins Krankenhaus entbunden. Aber insgesamt wurde das Ergebnis der Geburten sowohl für die Frauen als auch für die Kinder besser."
NRW-Gesundheitsminister: "Zentralisierung an sich ist nicht schlimm"
Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) steht zu Level IV-Kliniken. Ohne kleine Krankenhäuser mit weniger als 500 Geburten pro Jahr sei die Versorgung in dünn besiedelten Gebieten nicht aufrechtzuerhalten, sagt der Christdemokrat im ARD-Interview: "Es ist schön, aus der Sicht der Wissenschaft Zahlen aufzuschreiben, aber man muss auch mit Realitäten in den Regionen umgehen." Dass andere Länder trotz längerer Fahrtwege ein besseres Ergebnis in der Geburtshilfe verzeichnen, bestreitet der Politiker nicht. Er hält diese Modelle aber nicht für übertragbar, weil Deutschland mehr Einwohner habe und die Bevölkerung anders als zum Beispiel in den skandinavischen Ländern längere Fahrtwege nicht akzeptiere.
Suleika Tannigel, deren Sohn Felix bei der Geburt zu Schaden kam, war nicht bewusst, dass es verschiedene Versorgungsstufen in deutschen Krankenhäusern gibt. Mit dem Wissen von heute hätte sie auch einen längeren Fahrtweg in Kauf genommen.