Ulli Lust
interview

Sachbuchpreis für Ulli Lust Geschlechterrollen hinterfragen - mit einem Comic

Stand: 18.06.2025 11:53 Uhr

Männer jagen, die Frauen sammeln Beeren - dieses falsche Klischee zum Leben in der Frühgeschichte hält sich hartnäckig. Die Autorin Ulli Lust klärt in ihrem Comic auf. Dafür hat sie nun den Deutschen Sachbuchpreis bekommen.

tagesschau.de: Sie wurden vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet - für einen Comic. Hätten Sie je damit gerechnet?

Ulli Lust: Der Preis ist eine großartige Bestätigung dafür, etwas zu wagen. Das Projekt selbst - einen essayistischen Comic zur Frühgeschichte zu schreiben und zu zeichnen - fühlte sich ein wenig größenwahnsinnig an, aber der Stoff hat mich schon lange gereizt. Weil es in den vergangenen Jahren so viele Neuerungen in der Forschung zur Frühgeschichte gab. Es gibt noch immer viel zu viele Mythen, die über unsere eigene Herkunft kursieren, die dann auch schnell zum Naturgesetz erklärt werden. Es gibt Klärungsbedarf.

Mit dem Comic habe ich ein Werkzeug, das sehr gut Zusammenhänge visualisieren kann. Es schien mir sinnvoll, Fragen zu den ersten Bildern der Menschheit in Form einer Bilderzählung zu verhandeln. Der Preis ist eine sehr schmeichelhafte Bestätigung dafür, dass das Experiment geklappt hat.

tagesschau.de: Was sagt das über die Akzeptanz von Graphic Novels und Comics hierzulande aus, wo man ja als Comic-Zeichnerin oft mit einem eher schwierigen Image zu kämpfen hat?

Lust: Ich bin es gewohnt, für ein Nischenpublikum zu arbeiten. Das macht es leichter, Neues auszuprobieren. Die alternative Comicszene ist eine sehr experimentierfreudige Nische, und die Medien haben die verschiedenen neuen Formate und Themen in den letzten Jahren gut begleitet. Seit ich angefangen habe, kann ich über fehlende Akzeptanz nicht klagen. Der Erfolg des aktuellen Buches überrascht allerdings selbst mich.

Cover des Comics "Die Frau als Mensch" von Ulli Lust.

Das Cover des Comics "Die Frau als Mensch" von Ulli Lust.

tagesschau.de: Ihr ausgezeichnetes Buch heißt "Die Frau als Mensch". Mensch ist aber in diesem Fall Wiener Dialekt und steht für Mädchen - oder gibt es da noch eine weitere Bedeutung?

Lust: Der Titel verweist auf die Tatsache, dass die Kategorie Mensch im Bilderschatz der Eiszeit durch Frauen repräsentiert wird. Männer wurden selten, und wenn, dann als Mensch-Tier-Mischwesen dargestellt. Im Comic gehe ich der Frage nach, wer die Menschen waren, die diese Kunst schufen.

"Frauen der Eiszeit waren groß und kräftig"

tagesschau.de: Grundsätzlich geht es in ihrem Buch um die Rolle der Frau in der Frühgeschichte. Ist das Bild vom Jäger und Sammler falsch, bei dem die Frau eine untergeordnete Rolle spielt?

Lust: Ja. Es ist falsch zu denken, Männer hätten nur gejagt und Frauen nur gesammelt und ansonsten darauf gewartet, dass der Mann das Mammut nach Hause bringt. Die Frauen der Eiszeit waren groß und kräftig. Man geht heute davon aus, dass sie auch gejagt haben, Kleinwild mit Schlingen und Fallen sowieso, aber wahrscheinlich auch große Tiere. Es wurden weibliche Skelette gefunden, die eine gut ausgebildete Schultermuskulatur eingeschrieben hatten. Jene Muskeln, die man zum Speerwerfen brauchte.

Seite aus dem Comic "Die Frau als Mensch" von Ulli Lust.

Eine Seite aus dem Comic "Die Frau als Mensch".

tagesschau.de: Bisher haben Sie autobiografische Comics gemacht und eine Romanadaption. Warum dieses Mal einen Sachcomic?

Lust: Frühgeschichte ist neben Comics eine zweite Passion, die ich verfolge, allerdings als Amateurin. In den vergangenen Jahrzehnten gab es erstaunlich viele Neuigkeiten auf diesem Gebiet, nicht zuletzt dank DNA-Analysen. Wenn man Publikationen verfolgt, tauchen gefühlt im Stundentakt erstaunliche neue Funde auf. Ich arbeite seit 2019 an diesem Buch und habe mindestens drei Szenen umarbeiten müssen, weil sich die Datenlage inzwischen verändert hatte.

Wir können unsere eigene Vergangenheit heute ganz anders betrachten als früher. Es erschien mir reizvoll, den Werkzeugkasten, den das Medium Comic zur Verfügung hat, dafür zu nutzen.

Auf der Spur der Mythen

tagesschau.de: Wie gelangen Sie zu Ihren Erkenntnissen? Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Lust: Lesen, lesen, lesen. Weil mich das Thema seit Langem interessiert, hatte ich bereits einen recht guten Überblick. Als die Entscheidung für das Buchprojekt fiel, habe ich systematisch zu den vielen jeweiligen Fragen recherchiert. Einige der Orte, die ich gezeichnet habe, konnte ich auch besuchen.

tagesschau.de: Wie geht es inhaltlich im zweiten Band weiter?

Lust: Im ersten Teil haben wir am Ende eine Gruppe von Mammutjägerinnen und Mammutjägern im Gebiet der heutigen Tschechischen Republik kennengelernt. Im zweiten Teil begleiten wir sie auf der Wanderung ins Winterlager nach Willendorf an der Donau in Österreich. Wir sind bei der großen saisonalen Rentierjagd dabei und bei der Verarbeitung des Fleisches und der Felle.

Daneben verfolge ich die Spur der Mythen zurück in die Vergangenheit. Gewisse Motive und Zeichen sind erstaunlich langlebig, einmal aufgetaucht kehren sie immer wieder. Ihre Bedeutung mag sich in verschiedenen Kulturen gewandelt haben, aber manche Zeichen werden hartnäckig immer weiter tradiert. Die Bilder der Eiszeit werden im Kontext des mutmaßlichen Alltagslebens der Mammutjäger gezeigt, um eine bessere Einfühlung zu ermöglichen.

Das Interview führte Alex Jakubowski, HR.