
Streit über Gefangenenaustausch Russland und Ukraine werfen sich Verzögerung vor
In Istanbul hatten Russland und die Ukraine den Austausch von Gefangenen vereinbart. Dieser scheint sich nun zu verzögern. Beide Seiten geben einander die Schuld dafür. Das russische Militär hat am Abend erneut Gleitbomben über Charkiw abgeworfen.
Der während der Friedensgespräche in Istanbul zwischen Russland und der Ukraine vereinbarte Austausch von Kriegsgefangenen und gefallenen Soldaten verzögert sich vorerst. Die Ukraine habe "unerwartet die Annahme der Leichen und den Austausch der Kriegsgefangenen auf unbestimmte Zeit verschoben", erklärte der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski in Onlinediensten.
Laut Medinski brachte Russland am Samstag die Leichen von 1.212 getöteten ukrainischen Soldaten in Kühlfahrzeugen in das "Austauschgebiet". Zudem habe Moskau eine Namensliste der 640 russischen Kriegsgefangenen an Kiew geschickt, die ausgetauscht werden sollten. "Wir fordern Kiew dazu auf, sich strikt an den Zeitplan und alle getroffenen Vereinbarungen zu halten und unverzüglich mit dem Austausch zu beginnen", fügte Medinski hinzu.
Ukraine wirft Russland "schmutzige Spiele" vor
Die Ukraine wies die Vorwürfe zurück. "Die heutigen Erklärungen der russischen Seite entsprechen weder der Realität noch früheren Vereinbarungen über den Austausch von Gefangenen oder die Rückführung von Leichen", schreibt Andriy Kowalenko vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine auf Telegram. Russland habe vielmehr ohne Einigung auf einen Termin selbst die Übergabe der Toten festgelegt. Moskau solle aufhören, "schmutzige Spiele" zu spielen und zu konstruktiver Arbeit zurückkehren, damit der Gefangenenaustausch in den kommenden Tagen umgesetzt werden könne.
Das ukrainische Koordinierungs-Hauptquartier für die Behandlung von Kriegsgefangenen erklärte, es gebe kein konkretes Datum für die Rückführung der Leichen. Die Liste der Gefangenen, die Moskau angeblich freigeben würde, entspräche nicht den Bedingungen des Abkommens.
In Istanbul hatten am Montag zum zweiten Mal seit Mitte Mai Unterhändler der Ukraine und Russlands beraten. Sie vereinbarten einen Gefangenenaustausch sämtlicher Kriegsgefangenen im Alter von 18 bis 25 Jahren, der schwer verwundeten oder schwer kranken Gefangenen und den Austausch von 6.000 Leichnamen ukrainischer und russischer Soldaten. Der Austausch wurde für das Wochenende angekündigt.
Massive Angriffe auf Charkiw und Cherson
Russland überzog derweil die ukrainischen Großstädte Charkiw und Cherson mit massiven Luftangriffen. Dabei starben nach ukrainischen Angaben mindestens fünf Menschen. In Charkiw seien drei Menschen getötet und 22 weitere verletzt worden, erklärte Bürgermeister Ihor Terechow im Onlinedienst Telegram.
An verschiedenen Orten in der zweitgrößten Stadt des Landes schlugen nach Darstellung des Bürgermeisters 53 Drohnen, eine Rakete und vier Gleitbomben ein. Infolge der Angriffe, die am frühen Morgen andauerten, seien mehrere Brände ausgebrochen.
Am frühen Abend setzte Russland die Angriffe fort und warf erneut Gleitbomben im Stadtzentrum von Charkiw ab. Eine 30 Jahre alte Frau sei getötet worden, teilte Militärgouverneur Oleh Synjehubow bei Telegram mit. Am Abend sei auch ein 62 Jahre alter Mann im Krankenhaus an seinen Verletzungen gestorben, sagte er. Demnach gab es auch mehr als 40 Verletzte, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj mitteilte.
Zwei Gebäude einer Kindereisenbahn, Zugwaggons und zwei Privathäuser seien beschädigt worden, sagte Synjehubow weiter. Es handele sich um einen beliebten Ort, an dem Familien samstags ihre Freizeit verbringen.
"Stärksten Angriff seit Beginn des Krieges"
"Charkiw erlebt derzeit den stärksten Angriff seit Beginn des Krieges. In den letzten anderthalb Stunden waren mindestens 40 Explosionen in der Stadt zu hören", sagte Terechow. Es seien 18 Wohnblöcke und 13 Privathäuser beschädigt worden. Auf Bildern waren schwere Zerstörungen an den Gebäuden zu sehen - mit vielen unbewohnbaren Wohnungen.
"Für Charkiw, das sehr nah an der russischen Grenze liegt, ist es ungleich schwerer als für Kiew im Zentrum des Landes, solche Angriffe abzuwehren", sagte Tobias Dammers, ARD-Korrespondent in Kiew. "Charkiw liegt besonders exponiert und ist hart getroffen worden in dieser Nacht."
In Cherson starben bei russischen Luftangriffen zwei Menschen, wie Gouverneur Oleksandr Prokudin mitteilte. Zahlreiche Menschen wurden demnach verletzt, darunter auch Kinder.

Die russischen Angriffe ereigneten sich in verschiedenen Regionen der Ukraine.
Auch Angriffe in anderen Regionen
Russische Drohnen- und Raketenangriffe gab es nach ukrainischen Angaben unter anderem auch in den Regionen Odessa, Donezk und Dniprotetrowsk. Außenminister Andrij Sybiha sprach auf der Plattform X von russischem Terror gegen Zivilisten. Es sei auch Energie-Infrastruktur beschädigt worden. "Um Russlands Töten und Zerstören zu beenden, braucht es mehr Druck auf Moskau sowie mehr Schritte für eine Stärkung der Ukraine. Russland ist ein Terrorstaat und muss als solcher bezeichnet werden", sagte der Minister.
Schon in der Nacht auf Freitag hatte Russland die Ukraine mit massiven Luftangriffen überzogen. Moskau sprach von einer Reaktion auf die ukrainischen Drohnenangriffe auf russische Militärstützpunkte, bei denen eine Reihe russischer Militärflugzeuge zerstört worden waren.
In Moskau sind nach Behördenangaben erneut mehrere ukrainische Drohnen abgeschossen worden. Im Moskauer Gebiet seien durch Trümmer abgeschossener Drohnen zwei Menschen verletzt worden, hieß es.