Ein russischer Soldat läuft und hält dabei ein Gewehr
interview

Krieg gegen die Ukraine "Das Bild einer neuen Offensive suggeriert etwas Falsches"

Stand: 28.05.2025 06:04 Uhr

Bereitet Russland in der Ukraine eine Offensive vor? Der Militärexperte Gady erkennt zwar einen verlustreichen Vormarsch. Zu einer großen Offensive sei Russland aber nicht fähig. Und was hat es mit der Äußerung von Merz zu deutschen Waffen auf sich?

tagesschau.de: Worauf zielt Ihrer Meinung nach die Bemerkung von Bundeskanzler Friedrich Merz ab, er werde jetzt die Reichweitenbeschränkungen für aus Deutschland an die Ukraine gelieferte Waffen aufheben?

Franz-Stefan Gady: Das ist derzeit noch schwer abzuschätzen. Merz hat ja nachträglich erklärt, die Entscheidung sei schon vor Monaten getroffen worden, stelle also gar keinen Kurswechsel dar.

Die Freigabe könnte unter anderem für das Raketenwerfersystem MARS gelten, das eine Reichweite von 85 Kilometern hat. Das ist nicht sehr viel, könnte aber andererseits bei Kämpfen in der Region Sumy relevant werden. Ich glaube nicht, dass die Äußerung von Merz im Zusammenhang mit einer etwaigen baldigen Lieferung des Taurus-Systems steht - es sieht auch nicht danach aus, als sei hier schon eine Entscheidung gefallen.

Ohnehin gilt weiter, was ich schon im vergangenen Jahr immer wieder gesagt habe: Man darf vom Taurus nicht zu viel erwarten. Es würde den Kriegsverlauf sicher nicht grundsätzlich verändern, sondern "nur" eine zusätzliche Fähigkeit zur Verfügung stellen und dazu beitragen, den Druck auf die russischen Streitkräfte hinter der Front aufrechtzuerhalten.

Ich sehe die Äußerung von Merz deshalb vor allem im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Debatte, wie sehr die Europäer künftig die Ukraine unterstützen werden.

"Europa ist nicht wehrlos"

tagesschau.de: Das heißt, hier soll signalisiert werden, dass die Bundesregierung weiter bereit ist, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen?

Gady: Deutschland sollte in der Debatte und bei der Unterstützung weiter eine Führungsrolle einnehmen. Die US-Amerikaner wollen ihre militärische Unterstützung für die Ukraine zurückfahren und bei einzelnen Waffentypen, wie zum Beispiel den Langstreckenpräzisionswaffen, sind ihre Kapazitäten limitiert.

Sollten sie hier im Laufe des Jahres ihre Lieferungen und auch ihre Unterstützung bei der Gefechtsfeldaufklärung zurückfahren, müsste das durch europäische Systeme kompensiert werden. Das geht sicher nur bedingt, ist bei einzelnen militärischen Fähigkeiten aber möglich.

Hier könnte es Überlegungen geben, dass die Europäer und Deutschland im Laufe des Jahres die Ukraine stärker bei der Gefechtsfeldaufklärung unterstützen werden müssen, auch bei Schlägen in der Tiefe, weil die Ukrainer diesen Wegfall nicht alleine kompensieren können. Möglicherweise müssen die Europäer dann auch mehr der dafür erforderlichen Waffen liefern. Europa ist nicht wehrlos.

Franz-Stefan Gady
Zur Person
Franz-Stefan Gady ist unabhängiger Analyst und Militärberater. Er berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den Vereinigten Staaten in Fragen der Strukturreform und der Zukunft der Kriegsführung. Feldforschungen und Beratungstätigkeiten führten ihn mehrmals in die Ukraine, nach Afghanistan und in den Irak, wo er die ukrainischen Streitkräfte, die afghanische Armee, sowie NATO-Truppen und kurdische Milizen bei verschiedenen Einsätzen begleitete. Er ist auch Reserveoffizier. Sein im Oktober erschienenes Buch "Die Rückkehr des Krieges" ist für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.

Wo Russland vorrückt

tagesschau.de: Wo ist denn die Lage für die Ukraine derzeit schwierig?

Gady: Wir müssen derzeit auf mehrere Achsen schauen. In der Region Donezk südwestlich von Pokrowsk erzielen die russischen Streitkräfte langsam, aber stetig Geländegewinne und versuchen einerseits in Richtung Dnipro und andererseits in Richtung Kramatorsk und Slowjansk vorzurücken. Hier bereiten sie gerade einen Vorstoß auf Konstjantyniwka vor. Dort könnte ein Kessel entstehen.

In der Region Sumy ist die russische Armee bis auf fast 20 Kilometer an die Stadt herangerückt. Einerseits ist hier das Ziel, eine Pufferzone zu errichten, was ich schon im vergangenen Sommer erwartet habe.

Aber Sumy ist auch ein wichtiger logistischer Knotenpunkt. Ich war vor einiger Zeit dort und konnte den Eindruck mitnehmen, dass es den Russen hier vor allem darum geht, die Front so weit vorzuverlegen, dass sie diesen Knotenpunkt mit Drohnen, Artillerie und Mehrfachraketenwerfern zerschlagen können.

Wenn sich die Situation hier zuspitzt, könnte ich mir vorstellen, dass den Ukrainern erlaubt wird, mit dem Raketenwerfer MARS in die Tiefe des russischen Raums zu wirken. Aber das ist vorerst eine reine Hypothese.

Der "größte limitierende Faktor für die russische Armee"

tagesschau.de: Es ist derzeit viel von einer möglichen Sommeroffensive die Rede. Erwarten sie eine solche - und sind die von Ihnen geschilderten Bewegungen Vorboten davon?

Gady: Ich würde den Begriff nicht verwenden und von einem solchen medialen Narrativ abraten. Wir beobachten vor Ort einen stetigen und langsamen Anstieg in der Intensität russischer Militäroperationen, also schnellere und mehr Operationen und Angriffe am Tag.

Das Bild einer neuen Offensive suggeriert etwas Falsches. Denn für die russischen Streitkräfte ist es nach wie vor eine riesige Herausforderung, Angriffe zu skalieren. Die begrenzte Kapazität und Fähigkeit, Angriffe im größeren Rahmen durchzuführen, ist der größte limitierende Faktor für die russische Armee.

Das liegt nicht daran, dass wir durch die vielen Aufklärungsdrohnen inzwischen halbgläserne Gefechtsfelder haben. Sondern daran, dass die russischen Streitkräfte immer wieder an das Ende ihrer organisatorischen Kapazitäten geführt werden.

Die Infanterie - weiter "ukrainisches Hauptproblem"

tagesschau.de: Was hat die Ukraine diesem stetigen Anstieg entgegenzusetzen?

Gady: Auf ukrainischer Seite ist das Hauptproblem nach wie vor die fehlende Infanterie. An sich aber hält das ukrainische Verteidigungssystem - weil die Russen nicht im großen Rahmen angreifen können und die Ukraine selbst in großer Zahl Minen und Drohnen herstellt. Bei den Drohnen können es möglicherweise bis Ende des Jahres bis vier Millionen Stück sein.

Dazu kommt Artillerie, wo Europa eine immer größere Rolle übernimmt und den Ausfall der Amerikaner kompensieren kann. Die Russen sind zwar überlegen, aber haben keinen entscheidenden Vorteil. Zudem hat die Wichtigkeit von Artillerie abgenommen im Vergleich zur Bedeutung der Drohnen.

Und hier hat die Ukraine genügend Munition und Kapazitäten, um zu verhindern, dass die Russen einen operativen Durchbruch erzielen. Es gibt für die Ukraine insgesamt einen negativen Trend, aber keinen katastrophalen.

Wenn es dabei bleibt, werden die Russen langsam mit minimalen Geländegewinnen vorrücken - unter erheblichen Verlusten. Die Frage wird sein: Hält die ukrainische Front solange, bis die russischen Kräfte erschöpft sind und dann ernsthafte Waffenstillstandsverhandlungen beginnen können? 

Könnte es zu breiter Kriegsmüdigkeit kommen?

tagesschau.de: Ist nicht aber die Dauer des Krieges für die Ukraine ein Problem?

Gady: Das Ziel der Russen bleibt sicher, die ukrainischen Streitkräfte abzunützen, auch, was die ukrainische Luftabwehr betrifft. Im Moment haben sie hier keinen entscheidenden technischen Vorteil, vorerst meistert die ukrainische Flug- und Raketenabwehr die Abwehr der Angriffe insgesamt gut.

Das große Problem werden die ballistischen Raketen auf russischer Seite sein. Noch liefern die US-Amerikaner genug Flugabwehrraketen.

Sollte aber irgendwann die ukrainische Raketenabwehr zusammenbrechen, könnte es zu einer derartigen Kriegsmüdigkeit auf ukrainischer Seite kommen, dass die Regierung früher oder später gezwungen sein wird, in Verhandlungen einzutreten. Aber selbst das sehe ich im Moment nicht.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de