
Nach dem Erdbeben in der Türkei "Wir haben keine Sicherheit in Istanbul"
Mehr als 200 Verletzte, aber kaum Schäden: Die Bilanz des Erdbebens in Istanbul klingt weniger schlimm als befürchtet. Doch Forscher rechnen bald mit heftigeren Erschütterungen. Warum ist die Region besonders gefährdet?
Nach den Erdbeben in der türkischen Millionenmetropole Istanbul verbrachten zahlreiche Menschen die Nächte im Freien und schlugen etwa in Parks oder auf anderen Grünflächen Zelte auf, wie türkische Medien berichteten. Das Beben hat keinen größeren Schaden angerichtet - aber die Angst vor einer laut Experten unabwendbaren Katastrophe befeuert.
Wissenschaftler halten weitere Nachbeben für möglich. "Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es zwei Szenarien: Entweder ist die unmittelbare Region nun vorerst entspannt und die Seismizität klingt langsam ab, oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Erdbeben in der Region", sagte Marco Bohnhoff vom Potsdamer Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ). Man beobachte die Vorgänge sehr genau.
184 Nachbeben bis zum Abend
Das Beben sei das Schwerste in der Region seit mehr als 25 Jahren gewesen. Nach GFZ-Angaben hatte das erste Erdbeben eine Stärke von 6,2 in einer Tiefe von rund zehn Kilometern, etwa 60 Kilometer westlich von Istanbul im Marmarameer. Nur 13 Minuten später habe die Erde erneut gebebt, diesmal mit einer Stärke von 5,3 in etwa 40 Kilometern Entfernung. Auch in Griechenland und Bulgarien waren die Erdstöße zu spüren.
Das zweite Beben deutet den Wissenschaftlern zufolge darauf hin, dass sich die Spannungen verlagert haben. Dadurch seien weitere Erdstöße wahrscheinlicher. Bis zum Abend meldete der Katastrophendienst Afad 184 Nachbeben.

Etwa 60 Kilometer lagen zwischen dem Epizentrum des Bebens und der Metropole Istanbul.
Bei Istanbul treffen zwei Erdplatten aufeinander
Die Region um das Marmarameer in der Nähe der Millionenstadt Istanbul besitzt den Experten zufolge eine der risikoreichsten geologischen Strukturen weltweit: Dort treffen zwei tektonische Platten aufeinander - die eurasische und die anatolische. Der Bereich unterhalb des Marmarameeres südlich von Istanbul sei der einzige Bereich der gesamten Plattengrenze, der seit mehr als 250 Jahren kein Starkbeben mehr generiert hat. Experten gehen seit langem davon aus, dass ein Beben rund um die Stärke 7 in Istanbul bevorsteht.
Behörden melden keine eingestürzten Gebäude
Das gestrige Beben hatte vergleichsweise glimpfliche Folgen: Mindestens 236 Menschen seien mit Verletzungen in Krankenhäuser gebracht worden, die sie sich zugezogen hätten, als sie in Panik aus Gebäuden sprangen oder zu klettern versuchten, teilte das Gesundheitsministerium mit. Allein 173 Fälle seien aus Istanbul gemeldet worden. Teilweise waren Telefonnetz und Internet gestört. Viele Flüge aus Istanbul waren am Mittwochabend ausgebucht, auch auf den Straßen hatten sich über Stunden Autos gestaut.
Laut dem Istanbuler Gouverneursamt gab es zunächst keine Berichte über eingestürzte Gebäude. Die Bürger wurden gebeten, Ruhe zu bewahren und sich beschädigten Gebäuden nicht zu nähern. Der Minister für Verkehr und Infrastruktur, Abdulkadir Uraloglu, schrieb auf der Plattform X, es seien bei einer ersten Bestandsaufnahme keine Schäden an Straßen, Flughäfen, Zügen und U-Bahnen festgestellt worden. Laut Städtebauminister Murat Kurum (AKP) wurden zwölf Gebäude vorsorglich evakuiert.
Experten rechnen mit weiterem, großen Erdbeben
Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein weiteres großes Beben folge, sagte der Geologe Okan Tüysüz dem Sender NTV. Auch Erdbebenforscher Naci Görür sagte, für eine Entwarnung sei es zu früh. Das Hauptbeben werde noch kommen, schrieb Görür auf der Plattform X. Die aktuellen Erschütterungen erhöhten noch die Spannungen, so Görür.
Von den drei Teil-Verwerfungen im Marmarameer habe sich womöglich die westliche jetzt entladen, sagte Erdbebenforscher Süleyman Tunc im türkischen Fernsehen. Doch eine Entwarnung sei das nicht. "Das heute kann man nicht als das erwartete große Istanbul-Erdbeben bezeichnen", sagte Tunc. "Man kann zwar nicht sagen, dass jetzt automatisch ein großes Erdbeben daraus resultiert, aber man kann sagen: Das Risiko ist heute größer als noch gestern."
Kritik an schlechter Vorbereitung der Stadt
Istanbul gilt als schlecht vorbereitet. Schon bald nach dem Beben wurde Kritik in sozialen Netzwerken laut: Istanbul sei total verbaut, selbst Freiflächen, die eigentlich für solche Notfälle gedacht sind, seien nicht zugänglich, manche sogar mit Zäunen abgeriegelt, heißt es in den Posts. Die oppositionsnahe Nachrichtenagentur Anka berichtet, die Polizei habe Menschen verjagt, die im zentralen Gezi-Park Zelte aufschlagen wollten, um nicht zurück in ihre Wohnungen zu müssen.
Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus - das am dichtesten besiedelten Gebiet des Landes - nicht als erdbebensicher. Der inhaftierte und abgesetzte Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu kritisierte die Regierung am Mittwoch dafür, eine Erneuerung der Stadt versäumt zu haben.
"Wir haben keine Sicherheit in Istanbul"
Bis in den Abend hinein harrten viele Menschen im Freien aus. Dort fühlen sie sich sicher. "Wir hatten Angst, richtig viel Angst, es hat sehr stark gewackelt. Wie es weitergeht, wissen wir nicht, ich meine, ob wir wieder reingehen in unsere Wohnung", sagt ein Anwohner. "Wir haben keine Sicherheit in Istanbul. Darüber sind wir sehr verärgert. Der Staat muss dringend etwas unternehmen. Meine Kinder, wir alle, sind draußen, wie Sie sehen können."
Für Menschen, die sich nicht trauen, über Nacht in ihre Wohnungen zurückzukehren, hat das Istanbuler Gouverneursamt Schulen, Moscheen und Sporthallen geöffnet. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sagt in Ankara, alle staatlichen Institutionen seien in Alarmbereitschaft und verfolgten die Lage genau.
Mit Informationen von Benjamin Weber, ARD-Studio Istanbul