
Berlin Adoptierter Erwachsener: "Ich will, dass mich meine leibliche Mutter in den Arm nimmt"
Bis Lothar S. über 30 Jahre alt ist, hält er sich für das leibliche Kind seiner Eltern. Das stimmt aber nur für seinen Vater. S. sucht und findet seine biologische Mutter. Doch diese will bis heute keinen Kontakt. Ein Gesprächsprotokoll.
In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Leben gerade aussieht - persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Lothar S. lebt in Berlin und ist 62 Jahre alt. S. wurde kurz nach seiner Geburt unter ungewöhnlichen Umständen adoptiert. Davon hat er erst spät in seinem Leben erfahren. Kontakt zu seiner leiblichen Mutter suchte er bis vor Kurzem. Vergeblich.
Ich bin 1963 aus der Schweiz heraus nach Deutschland adoptiert worden. Meine Adoptivmutter und mein leiblicher Vater haben mich dort abgeholt, als ich drei Monate alt war und nach Baden-Württemberg gebracht, wo die beiden wohnten.
Ich bin ein Seitensprung meines Vaters. Die Idee, die sehr junge Frau, die von meinem Vater schwanger war, in die Schweiz zu schicken und mich dann als ihr Kind aufzuziehen, hatte meine Adoptivmutter – die Ehefrau meines Vaters.
Meine leibliche Mutter war zum Zeitpunkt meiner Geburt gerade 18 Jahre alt geworden. Damals allerdings war man erst mit 21 Jahren volljährig, und eine "ledige Mutter" zu sein, war stark stigmatisiert. Nachdem sie den Ärger über die Affäre meines Vaters überwunden hatte, kam meine spätere Adoptivmutter auf die Idee, meine schwangere Mutter zu Verwandten von ihr in die Schweiz zu schicken, bevor man ihr die Schwangerschaft ansah. In der Schweiz hat sie dann während ihrer Schwangerschaft – und auch danach eine ganze Weile – auf die Kinder der Familie aufgepasst. Nach der Entbindung sollte ich zu meinem Vater und dessen Frau. Das war der Deal – und so geschah es.
Als ich fünf oder sechs war, hatte mein Vater in weiteres Verhältnis, das auch mit einem Kind endete. Er ließ sich scheiden und lebte mit der neuen Frau und dem Kind zusammen. Ich blieb erst einmal bei meiner Adoptivmutter, die ich sehr gern hatte. Doch als sie krank wurde, kam ich zu meinem Vater. Bis ich 19 Jahre alt war, habe ich dann bei ihm und meiner Stiefmutter gewohnt. Meine Stiefmutter war dann im Prinzip meine dritte Mutter.

Lothar S. als Baby nach seiner Ankunft in Baden-Württemberg 1963
Dass ich adoptiert bin, wusste ich nicht. Bis ich mit Anfang 30 Jahren - da lebte ich schon in Berlin - selbst Vater wurde und einen Auszug aus dem Stammbuch brauchte. Mein Vater war schon verstorben. Auf dem Dokument stand, dass ich adoptiert bin.
Deshalb habe ich erst relativ spät angefangen, nach meiner leiblichen Mutter zu suchen. Obwohl es damals noch kein Internet gab und ich die Ämter bemühen musste, habe ich sie recht schnell gefunden. Ich habe ihr geschrieben, habe ein Foto von mir geschickt und ihr zum Geburtstag gratuliert. Aber es kam nie etwas zurück. Ich habe mir dann gesagt, dass sie bestimmt verheiratet ist, weitere Kinder hat und nie jemandem von mir erzählt hat. Das heißt, wenn ich da reinplatze, geht ein Familiengeheimnis hoch. Damit war meine Wurzelsuche erstmal beendet. Dann zogen die Jahre ins Land.
Dass ich adoptiert bin, wusste ich aber nicht, bis ich mit Anfang 30 Jahren selbst Vater wurde und einen Auszug aus dem Stammbuch brauchte.
Viel weiß ich nicht von meiner leiblichen Mutter. Aber ich habe irgendwann den Adoptionsvertrag in die Hände bekommen. Außerdem habe ich Briefe voll glühender Liebe gefunden, die sie meinem Vater geschrieben hatte. Auch noch, als sie schon schwanger mit mir war. Daher weiß ich, dass mein Name – Lothar – der ist, den sie mir gegeben hat. Denn davon schrieb sie.
Von meiner Adoption habe ich erst nach dem Tod meines Vaters erfahren. Ich war lange Zeit sehr böse auf ihn. Ich finde, mein 18. Geburtstag hätte allerspätestens der Termin sein müssen, an dem er mir das hätte sagen müssen. Ich kann das jetzt nur als einen Teil meines Lebens sehen, der vergangen ist, und an dem ich nichts ändern kann.
Ich habe glücklicherweise vor einigen Jahren in Berlin die Selbsthilfegruppe der erwachsenen Adoptierten der Caritas gefunden, die ich inzwischen leite. Durch diese Gruppe habe ich zu sehr vielen Erkenntnisse und Strategien gefunden, um mit all dem umzugehen.
Doch der Gedanke an meine leibliche Mutter taucht immer wieder auf. Verbunden ist dieser Gedanke - und überhaupt der der Adoption - für mich mit dem Gefühl der Einsamkeit. Mit diesem Gefühl habe ich Zeit meines Lebens zu kämpfen. Auch schon, bevor ich von meiner Adoption wusste. Wer Einsamkeit kennt, weiß, dass es sich dabei um ein lähmendes und schmerzhaftes, auch körperliches Gefühl handelt. Heute kann ich damit recht gut umgehen. Aber ich weiß, auch von anderen Adoptierten, dass das mit der Tatsache der Adoption zusammenhängt.
Denn für viele Adoptierte entsteht durch die abgerissene Bindung zu ihrer leiblichen Mutter ein Trauma. Ein adoptiertes Kind wird zu einer Zeit von seiner Mutter abgelehnt, wo es die Bindung zur ihr lebensnotwendig braucht. Das kann man einem Baby nicht erklären. Und der Zustand vor der Traumatisierung kann auch nie wieder hergestellt werden. Das Gefühl der Einsamkeit hat da seinen Ursprung. Für mich ist es die Einsamkeit, für andere Adoptierte etwas anderes. Überdurchschnittlich viele Adoptierte haben beispielsweise mit Sucht und Abhängigkeit zu tun.

Ich habe mich dann kurz vor meinem 60. Geburtstag, als ich gefragt wurde, wie ich diesen Tag verbringen möchte, sagen hören, dass ich Kaffee und Kuchen möchte – mit meiner Mutter. Eine kleine Anekdote: Ein Mitglied unserer Selbsthilfegruppe sagte mal, es ginge ihm ja nicht darum, seine leibliche Mutter in den Arm nehmen zu wollen. Da ging mir auf: Doch, genau das will ich eigentlich wider besseres Wissen haben. Ich will, dass mich meine leibliche Mutter in den Arm nimmt, mir über den Kopf streicht und sagt, dass alles gut wird.
Ich habe dann tatsächlich noch einmal versucht, an sie heranzukommen. Doch im Zentralmelderegister, an das ich mich mithilfe der Adoptionsstelle gewandt hatte, wurde dann ein Vermerk mit einer ausdrücklichen Kontaktsperre gefunden. Ich habe nicht einmal erfahren, ob sie noch lebt. Das war vor einem Dreivierteljahr. Ich würde sie gern wenigstens betrauern können – damit ich sie auch gehen lassen kann. Aber vielleicht hat es so auch ein Gutes: Ich muss mich nicht noch einmal von ihr verabschieden.
Gesprächsprotokoll: Sabine Priess