Symbolbild:Eine Ärztin gibt einer Patientin einen Zettel.(Quelle:imago images/Panthermedia)

Berlin Facharzt-Termin erst nach Hausarztbesuch möglich - Patientenschützer kritisieren geplante Reform

Stand: 22.04.2025 06:11 Uhr

Erst zum Hausarzt, dann zum Facharzt – so stellen sich Union und SPD künftig Arztbesuche vor. Ein sogenanntes Primärarztsystem soll für mehr Ordnung sorgen. Doch viele warnen: Das könnte die Versorgung eher verschlechtern. Von A. Herr und Y. Speck.

Wer heute zum Orthopäden, zum Hals-Nasen-Ohrenarzt oder einer anderen Fachärztin möchte, kann dort direkt einen Termin buchen – ohne vorher beim Hausarzt gewesen zu sein. Das könnte sich bald ändern. Denn Union und SPD schlagen im Koalitionsvertrag ein sogenanntes Primärarztsystem vor.
 
Das bedeutet: Wer zum Facharzt möchte, muss zuerst zur Hausärztin gehen. Die Hausärztin stellt dann – bei Bedarf – eine Überweisung an den Facharzt aus. Die Parteien erhoffen sich dadurch eine bessere Patientenkoordinierung und schnellere Termine bei Fachärzten. Kritiker warnen hingegen vor einer Überforderung der Hausärzte und sehen Nachteile für die Versorgung von Patientinnen und Patienten.

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Patientenschützer kritisieren Pläne

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, hält wenig vom Vorschlag von Union und SPD: "Es wird dazu führen, dass wir jetzt zwei Mal warten dürfen. Einmal beim Hausarzt und das nächste Mal beim Facharzt."
 
Brysch betont, dass Hausarztpraxen in Berlin und Brandenburg oft keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen würden. Außerdem hätten viele Menschen gar keinen Hausarzt mehr. Müssten alle den Umweg über die ohnehin schon vollen Hausarztpraxen nehmen, hätte das Nachteile. "Das wird immer zu Lasten derjenigen gehen, die heute schon zu dem jeweiligen Hausarzt gehen", so Brysch.

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Sorge vor Überforderung der Praxen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ist der Dachverband der einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen. Ihr Vorstandsvorsitzender Andreas Gassen kritisiert die Pläne von Union und SPD ebenfalls. "Aktuell würde das dazu führen, dass die hausärztlichen Praxen sich doppelt so viele Patienten anschauen müssten wie bisher."
 
Es sei schlicht nicht machbar, alle 73 Millionen Kassenpatienten durch das hausärztliche System zu schleusen. "Wir würden das System der hausärztlichen Praxen überfordern." Außerdem würden sich logistische Fragen stellen. "Wenn Menschen in einem Flächenland wie Brandenburg eine hausärztliche Praxis aufsuchen müssen, die 50 Kilometer südlich entfernt ist und dann eine fachärztliche Praxis aufsuchen, die 50 Kilometer nördlich entfernt ist, dann müssen sie vorher getankt haben. Sonst wird das schwierig", sagt Andreas Gassen.

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Hausärzte-Verband begrüßt Primärarzt-Pläne

Einer, der diesen Vorschlag dann in die Tat umsetzen müsste, ist der Berliner Hausarzt Aydin Ilker. "Natürlich erwarten wir dann einen größeren Zustrom von Patientinnen und Patienten, die einen Facharzttermin haben wollen und über uns gehen müssen. Das bedeutet für uns mehr Arbeit", so Ilker. Dennoch sei er bereit, das vorgeschlagene System auszuprobieren. "Offensichtlich ist da etwas aus dem Ruder gelaufen." Er meint die hohen Kosten für Facharztbehandlungen und die langen Wartezeiten auf Termine.

Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Auch der Hausärzte-Verband Berlin und Brandenburg e.V. begrüßt die Pläne im Koalitionsvertrag. "Wir haben lange dafür gekämpft, dass endlich die hausärztliche Primärversorgung ihren Weg findet", sagt die Vorsitzende Doris Höpner. Die medizinische Versorgung sei qualitativ besser, wenn Hausärzte und Hausärztinnen die Menschen ganzheitlich betreuen – und sie nicht nur punktuell von Fachärzten behandelt werden.
 
"Ich erhoffe mir, dass die Lotsen- und Steuerungsfunktion der Hausärzte auch dazu führt, dass unnötige Patientenkontakte vermieden werden", so Höpner. Die Wartezeiten auf Facharzttermine würden geringer - für diejenigen, die einen Arztbesuch wirklich brauchen.


Aktuell keine Überweisungspflicht

Die Pflicht zur Überweisung beim Besuch von Fachärzten wurde in Deutschland zum 1. Januar 2009 im Rahmen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes weitgehend abgeschafft. Ziel war es damals, die Patientenfreizügigkeit zu stärken und den Zugang zur fachärztlichen Versorgung zu erleichtern. Die Maßnahme war Teil einer umfassenden Gesundheitsreform unter der damaligen Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD.
 
Allerdings wurde die freie Arztwahl auch kritisiert – unter anderem wegen steigender Kosten und einer zunehmenden Zahl unnötiger Facharztbesuche. Genau diese Entwicklungen sind nun ein Argument für die Rückkehr zur Überweisungspflicht im Rahmen eines Primärarztsystems.

Wann und ob das neue System kommt ist noch offen

Noch ist unklar, wann und ob es überhaupt zu dem Primärarztsystem kommt. Der entsprechende Vorschlag steht im Koalitionsvertrag von Union und SPD, über den derzeit abgestimmt wird. Die SPD lässt ihre Mitglieder noch bis zum 30. April darüber entscheiden. Erst danach wird man wissen, ob diese Koalition ihre Arbeit aufnehmen wird. Wann das Primärarztsystem dann auf der Agenda steht, ist noch offen

Sendung: rbb24 Abendschau, 22.04.2025, 19:30 Uhr