
Berlin Gastspiel am Maxim Gorki Theater: Zurück in Buchenwald
Schreiben oder Leben? Erinnern oder Vergessen? - Das war das Lebensthema von Jorge Semprún, Schriftsteller, Überlebender des KZ Buchenwald. Am Maxim Gorki Theater erinnern 30 französische und deutsche Jugendliche an ihn. Von Barbara Behrendt
Wenn die 30 jungen Leute aus Deutschland und Frankreich auf der kleinen Studiobühne im Berliner Maxim Gorki Theater stehen, ist fürs Theaterspielen fast kein Platz mehr. Eng drängen sie sich aneinander, während jeweils eine Person einen Ausschnitt aus Jorge Semprúns Erinnerungs- und Reflexionsbuch "Schreiben oder Leben" vorträgt.
Es beginnt heftig auf der Bühne – mit einem Gefangenen im Konzentrationslager Buchenwald, der aus Auschwitz kommt, wo er beim Sonderkommando der Gaskammern eingeteilt war. In Buchenwald erzählt er den Gefangenen von seinen Erlebnissen: "Ich verstand seine Angst. Weil es nämlich bei allen Massakern der Geschichte Überlebende gegeben hat. Juden überlebten die Pogrome, selbst die barbarischsten, die mörderischsten. Aber in den Gaskammern der Nazis wird es nie Überlebende geben. Man stand drumherum, davor oder daneben wie die Männer des Sonderkommandos. Daher die Angst, nicht glaubwürdig zu sein, weil man nicht draufgegangen ist, weil man überlebt hat.“
Später folgt dieselbe Geschichte im französischen Original, gesprochen von einem Jugendlichen aus Frankreich.

Hochkultur und Holocaust in Weimar
Hochkultur und Holocaust – das liegt in Weimar dicht beieinander. Goethe und Schiller in der Stadt, auf dem Berg daneben das Konzentrationslager Buchenwald. Am Wochenende war es 80 Jahre her, dass amerikanische Soldaten das Lager befreit haben. Damals befanden sich noch 21.000 Gefangene im Lager – darunter der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jorge Semprún, der später spanischer Kulturminister wurde. Das Maxim Gorki Theater hat mit der Gedenkstätte Buchenwald und dem deutsch-französischen Jugendwerk nun das Theaterprojekt erarbeitet, das auf Semprúns Buch "Schreiben oder Leben" beruht.
Bei den Feierlichkeiten zum 80. Tag der Befreiung des KZ wurde es bereits in Weimar gezeigt. Dabei folgte das Publikum den jungen Spieler:innen durch drei Räume – auf der Bühne in Berlin finden die Jugendlichen nun gemeinsame Gesten, während sie alle dem Monolog lauschen. Sie sitzen auf dem Boden, den Kopf zwischen den Knien versteckt. Oder drängen sich wie in großem Schrecken an die Wände.

La Paloma: das Lied des Nazis
Zwischen den Texten wird auch mal ein Lied angestimmt. Etwa "La Paloma ade" von Mireille Mathieu – das in Bezug auf Buchenwald nun ganz anders klingt: "La Paloma, ade! Wie die wogende See, so ist das Leben ein Kommen und Gehen. Und wer kann es je verstehn?" Die ausgewählten Monologe und ihre Sprecher:innen wechseln von Abend zu Abend. Bei der Berliner Premiere fehlt leider Semprúns Geschichte zu diesem "La Paloma". Es spukt ihm deshalb ewig durch den Kopf, weil ein junger Nazi es pfiff, bevor Semprún ihn erschossen hat.
"Nur das Vergessen konnte mich retten"
Überhaupt ist es nicht immer leicht, den eindrücklichen, aber eben auch komplexen Texten Semprúns auf der Bühne zu folgen. Wer das Buch kennt, ist klar im Vorteil. Wer nicht, sollte das ohnehin baldmöglichst nachholen. Denn niemand schreibt so eindringlich über die Schwierigkeit des Erinnerns und Weiterlebens wie dieser kluge Philosoph: "Jede geschriebene Zeile tauchte meinen Kopf unter Wasser. Als befände ich mich von Neuem in der Badewanne der Villa der Gestapo in Auxerre. Ich wehrte mich, um zu überleben. Ich scheiterte bei meinem Versuch, den Tod zu schildern, um ihn zum Schweigen zu bringen: Hätte ich weitergemacht, dann hätte mich wahrscheinlich der Tod verstummen lassen. Nur das Vergessen konnte mich retten."
"Schreiben oder Leben" ist also ganz wörtlich zu verstehen. Anders als der italienische Schriftsteller Primo Levi, Überlebender von Auschwitz, dem das Schreiben ein Überlebenselixier wurde, muss Semprún die Erinnerung lange aus dem Schreiben ausklammern. Er muss sich genügend Jahre vom Tod, den er so direkt erlebt hat, wegbewegen. Erst Jahrzehnte später beschäftigt er sich schreibend mit der Vergangenheit im Lager. Sein Buch "Schreiben oder Leben“ schließt er 1992 ab – nach seiner ersten Rückkehr nach Buchenwald.
Nichts war wirklich – außer dem Lager
Dass Primo Levi sich 1987 das Leben nimmt, stürzt Semprún in eine Krise. Niemand habe das Leben nach dem KZ so treffend beschrieben wie dieser: "Nichts war wirklich außer dem Lager. Alles andere waren nur kurze Ferien oder Sinnestäuschung, Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause. So ist es. Man könnte es nicht besser ausdrücken als Primo Levi."
Zwar nimmt auch das Leben in den ersten Tagen, Wochen, Jahren nach dem 11. April 1945, nach der Befreiung, einen großen Teil von "Schreiben oder Leben" ein. Auf der Bühne konzentrieren sich die Jugendlichen jedoch auf die Teile über das Konzentrationslager. Und zwar voller Verve, Inbrunst und Überzeugung.

Das europäische Projekt: Signal der Hoffnung
Auch wenn die Abfolge von deutschen und französischen Monologen und sogar einem auf Romani, zum Gedenken der Sinti und Roma, auf die Dauer des Abends etwas monoton gerät, so ist es doch ein unerhörtes Signal der Hoffnung, dass die palästinensische Regisseurin und Schauspielerin Hiam Abbas, bekannt aus der Serie "Succssion", und der französische Regisseur Jean-Baptiste Sastre Jugendliche so vieler Hautfarben, Sprachen, Hintergründe zusammenbringen, um gemeinsam an einer Zukunft ohne Hass und Gewalt zu arbeiten. Dem überzeugten Europäer Jorge Semprún hätte das gefallen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.04.2025, 9:40 Uhr