Zwei junge Menschen sitzen auf einem Zaun an einer Parkanlage in Schöneberg. (Foto: dpa/Wolfram Steinberg)

Berlin Sparen in der Erziehungshilfe – mit welchen Folgen?

Stand: 10.04.2025 09:36 Uhr

Kinder und Jugendliche, die das Leben aus der Bahn geworfen hat, sollen mit Erziehungshilfe stabilisiert werden. Weil die Kosten explodierten, will der Senat die Standards senken - Praktiker warnen. Von U. Schuhmacher und J. Wintermantel

Annabell ist 16, lebt in Berlin im betreuten Einzelwohnen und macht gerade eine Ausbildung zur Malerin und Lackiererin in der Jugendberufshilfe. Dass sie so weit gekommen ist, sei keine Selbstverständlichkeit, sagt sie. Als sie klein war, wollte sie Psychologie studieren. Aber zuhause lief einiges schief. Es gab viel Streit und keine Regeln.
 
"Ich habe dann angefangen zu schwänzen, falsche Freunde, Drogen." Irgendwann ging sie gar nicht mehr zur Schule, da war sie zwölf. Annabell lief von zu Hause weg, wohnte ein Jahr bei einer Freundin, die kaum älter war als sie, landete im Heim, lief wieder weg.
 
Schließlich brachte sie das Jugendamt in eine betreute Jugend-WG. "Auf einmal ging alles", sagt Annabell. "Ich habe gecheckt, du musst jetzt, sonst wird das nichts. Und ich hatte auch viel Unterstützung von den Betreuern." Die hätten ihr geholfen, ihr Leben zu gestalten.

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Unterstützung muss genau passen

Annabell ist für Cornelia Kalk, die Geschäftsführerin des freien Trägers "Neues Wohnen im Kiez", ein Paradebeispiel für die Entwicklung, die Kinder und Jugendliche aus schwierigen Lebenslagen nehmen können, wenn sie entsprechend unterstützt werden. Das A und O ist aus ihrer Sicht, dass die Unterstützung genau passt, damit sie wirkt. Auch deshalb alarmiert sie die aktuelle Entwicklung im Bezirk Lichtenberg.
 
Der Bezirk will junge Volljährige nicht mehr im betreuten Wohnen unterbringen, wenn sie auch ambulant betreut werden könnten. Das sei natürlich billiger, aber die jungen Menschen fänden in Berlin meist keine Wohnung, sagt Kalk. Sie erzählt von einem 20-Jährigen aus Lichtenberg, dem gerade gesagt worden sei, dass er ab Mai nicht mehr im betreuten Einzelwohnen wohnen kann.
 
Der brauche aber noch ein bisschen Unterstützung, um ein selbstständiges Leben führen zu können, sagt Kalk. "Wenn das jetzt passiert, dass das abgebrochen wird, ist die Wahrscheinlichkeit leider groß, dass alles, was vorher erarbeitet wurde, wieder hinfällig werden könnte."

Kosten haben sich seit 2015 fast verdoppelt

Seit 2015 haben sich die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung in Berlin fast verdoppelt - von rund 490 Millionen Euro auf über 850 Millionen Euro im Haushalt 2024. Deshalb kündigte Berlins Finanzsenator Stefan Evers (CDU) an, die Standards für diese Hilfen absenken zu wollen, um Geld zu sparen. Gründe für die Kostenentwicklung sind allgemeine Kostensteigerungen, höhere Personalkosten und vor allem die zunehmende Komplexität der Fälle.
 
"Früher ging es oft um Erziehungsfragen", sagt Kalk. "Heute bringen viele junge Menschen psychische Probleme mit. Wir brauchen verschiedene Fachkräfte - Therapeuten, Sozialpädagogen, Erzieherinnen. Mehr Fachkräfte bedeuten mehr Kosten."
 
Besonders kostenintensiv sind Fälle junger Menschen, die durch massive psychische Belastungen oder Gewaltbereitschaft auffallen - oft als "Systemsprenger" bezeichnet. Sie benötigen individuell zugeschnittene Betreuung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband spricht von bis zu acht solcher Fälle pro Bezirk und Jahr.

Sparmaßnahmen könnten zu Obdachlosigkeit führen

Der Verband protestiert gegen die Sparmaßnahmen. Referentin Anna Nikitin warnt: "Junge Menschen, die mitten in Ausbildung oder Schulabschluss stecken, müssen sich plötzlich um Wohnung und Geld kümmern. Das führt zu Existenzängsten, Abbrüchen – im schlimmsten Fall bis hin zur Obdachlosigkeit."
 
Zudem kritisieren die Träger eine zunehmende Budgetierung der Hilfen: Nicht mehr der individuelle Bedarf entscheide, sondern das verfügbare Geld. Die Senatsfinanzverwaltung widerspricht: Man gebe keine Obergrenzen oder Kontingente für einzelne Fälle vor. Die Entscheidung liege bei den Bezirken.
 
Der Paritätische Wohlfahrtsverband besteht darauf, dass die Hilfen zur Erziehung eine Pflichtleistung sind, die nicht aus Spargründen gedeckelt werden können. Diese Einschätzung teilen Senat und Bezirke grundsätzlich. Allerdings verweist Lichtenbergs Jugendstadträtin Camilla Schuler (Linke) auf die Haushaltssperre im Bezirk. Deshalb würden nur noch Leistungen bewilligt, die als "unabweisbar notwendig" gelten - also zwingend rechtlich geboten sind. In der Praxis kann das dazu führen, dass Hilfen, die eigentlich sinnvoll oder fachlich angebracht wären, zurückgestellt oder nicht bewilligt werden - solange sie juristisch nicht eindeutig verpflichtend sind.

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Jugendstaatssekretär sucht alternativen Wohnraum

Berlins Jugendstaatssekretär Falco Liecke (CDU) sieht durchaus auch das Problem, dass in Berlin Wohnungen fehlen für junge Erwachsene, die nicht mehr im betreuten Einzelwohnen bleiben können. Man suche nach einer Lösung. Gemeinsam mit den Wohnungsbaugesellschaften planten Senat und Bezirke deshalb momentan "konzeptionell eine Möglichkeit, Wohnraum zu erschließen. Wir wollen bestehende Einrichtungen nutzen, die nicht mehr benötigt werden", so Liecke.
 
Das könnten beispielsweise Häuser sein, in denen bislang unbegleitete minderjährige Geflüchtete untergebracht waren. Weil weniger Geflüchtete kommen, stehe hier inzwischen Wohnraum leer, sagt der Jugendstaatssekretär dem rbb.

Gespart wird auch im ambulanten Bereich

Auch in anderen Bereichen der Jugendhilfe wird offenbar gespart. Mehrere Träger berichten dem rbb, dass Stundenkontingente immer enger bemessen und auch im ambulanten Bereich zunehmend eingeschränkt werden. "Die Jugendämter vereinbaren mit uns feste Stunden – aber daran wird immer häufiger gerüttelt", sagt Cornelia Kalk. "Offiziell nie aus Kostengründen – aber jeder weiß, dass es so ist."

Auch die Jugendberufshilfe, von der Annabell so profitiert, sieht Kalk in Gefahr. Im Gesetz ist sie nur als sogenannte "Soll-Leistung" verankert und damit anfälliger für Kürzungen.

"Wir brauchen das", sagt die 16-Jährige in ihrer Ausbildungswerkstatt. "Ich könnte die Ausbildung in einem normalen Betrieb nicht machen. Ich könnte auch nicht zur Schule gehen, weil mir ja vier Jahre fehlen. Die Jugendhilfe hat mir da schon sehr geholfen." Ob andere junge Menschen diese Chance auch bekommen, entscheidet sich nicht nur am Bedarf, sondern offenbar immer mehr auch am Budget.

Sendung: rbb24 Inforadio, 10.04.2025, 06.00 Uhr