
Berlin Sexismus im Schach: Die Dame wird häufig nur auf dem Brett respektiert
Schach ist eine Männerdomäne. Nur etwas mehr als neun Prozent der Aktiven in deutschen Vereinen sind Frauen. Die wenigen aktiven Spielerinnen haben es schwer. Über einen immer noch sexistischen Sport. Von Simon Wenzel
- Schachspielerinnen berichten von sexistischen Bemerkungen und Verhalten
- Frauenanteil im Schach mit rund zehn Prozent außergewöhnlich gering
- Berliner Verbandspräsident kritisiert unzureichende Förderung
- Deutscher Schachbund startet Evaluierungsprozess
Als Frau kann man sich in der Schachwelt ziemlich allein fühlen. Helen Raab, heute 33, wurde das so richtig bewusst, als sie nach Berlin zog und hier einen Schachverein suchte, wie sie erzählt. Vorher spielte sie über zehn Jahre lang in ihrer Heimat in Rheinland-Pfalz. Sie kannte die lokale Schachwelt und die meisten kannten sie.
Mit Anfang 20 wagte Helen Raab also einen Neuanfang. Sie ging auf Vereinssuche, im Gepäck ein Elo-Rating von 1.900 Punkten. Die Elo-Zahl gibt in der Schachwelt Auskunft über die Stärke von Spielerinnen und Spielern, sie berechnet sich aus den Ergebnissen bereits gespielter Partien gegen andere Spieler – ein sehr objektiver Wert also. Raabs 1.900 Punkte stehen für ein gutes, wettbewerbsfähiges Niveau. Das ist wichtig, weil die Vereinssuche im Schach über sogenannte Monatsturniere laufen kann. Man geht hin und spielt mit.

"Ständig konfrontiert damit, dass mir meine Spielstärke nicht geglaubt wurde"
Helen Raab hatte sich darauf sogar gefreut. Für sie als junge Frau galten aber offenbar andere Regeln. Besonders deutlich wurde ihr das, als sie bei einem Verein zum Turnier ging, wie sie sagt. Statt sie einfach mitspielen zu lassen, hätten die anwesenden Männer "nicht gerade freundlich" in Frage gestellt, ob sie denn richtig Schach spielen könne, sagt Raab. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, sei ein Mann aufgefordert worden, doch erstmal gegen sie zu spielen - noch vor dem Turnier. Der solle sie "prüfen", sagte ein anderer. Die Männer sprachen dabei untereinander über Helen Raab, nicht direkt mit ihr.
"Kann natürlich auch ein Einzelfall sein", sagt Raab. Den Verein will sie deshalb öffentlich nicht nennen. Eigentlich glaubt sie aber nicht an einen Zufall. Weil der Vorfall sich "in eine Reihe von Erfahrungen eingefügt hat", sagt Raab. "Ich war ständig damit konfrontiert, dass mir nicht geglaubt wurde, dass ich meine Elo-Punktzahl spiele", schildert sie. Schach ist eben immer noch eine Männerdomäne – und zwar mit die größte, die es im deutschen Sport gibt.
Schach in einer Reihe mit Dart und Motorsport
Aus Zahlen des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) von 2024 geht hervor, dass die Frauenquote im Schachbund bei etwas mehr als zehn Prozent liegt. In Berlin ist sie nach Angaben des Berliner Verbandspräsidenten Paul Meyer-Dunker sogar noch etwas niedriger.
Zum Vergleich: Über alle DOSB-Sportarten hinweg liegt die Quote weiblicher Sportlerinnen bei rund 39 Prozent. Es gibt nur fünf Sportarten im DOSB mit einer geringeren Frauenquote: Billard, Dart, Cricket, Motorsport und Aero/Luftsport.
Es wird der Eindruck erweckt, der Mann bestimme, wie das Spiel ausgeht
Ob Helen Raabs Erzählung vor fast zehn Jahren genau so passiert ist, lässt sich nicht mehr beweisen. Gründe sie anzuzweifeln, gibt es aber auch nicht. "Ich glaube sofort, dass das so passiert ist", sagt die Präsidentin des Deutschen Schachbundes, Ingrid Lauterbach, als ihr der Fall von rbb|24 geschildert wird. Sie selbst habe als Spielerin und Schiedsrichterin ebenfalls schon Situationen erlebt, in der ihre Kompetenz auf eine Weise in Frage gestellt worden sei, die bei Männern wohl nicht passiert wäre.
Der Präsident des Berliner Schachverbands, Paul Meyer-Dunker, zweifelt rbb|24 gegenüber ebenfalls nicht an, dass Helen Raab das von ihr Geschilderte so erlebt hat. Beide kennen die Probleme ihrer Sportart zu gut.
Gar nicht höflich: Der "Gentlemen-Spruch"
Das sexistische Verhalten, das Helen Raab bei der Vereinssuche entgegenschlug, äußerte sich nicht nur in Ablehnung. Die Alternative waren oft Flirtversuche, wie sie sagt. So habe die Vereinssuche, auf die sie sich eigentlich gefreut hätte, sie an einen Punkt gebracht, an dem sie fast mit dem Schach aufgehört hätte, sagt Raab. Weil sie sich plötzlich unwohl gefühlt habe in ihrem Sport ob der Männerdominanz.
Absprechen von Fähigkeiten, auf Äußerlichkeiten oder das Frausein reduziert werden – all das haben auch andere Spielerinnen, mit denen rbb|24 sprach, schon erlebt. Bemerkungen zum Outfit zum Beispiel oder "Gentlemen-Sprüche", wie Raab sie nennt: Verliert ein Mann gegen eine Frau, heißt es von anderen Männern, er sei eben ein Gentleman gewesen. Gewinnt er, wird gewitzelt, er hätte mal einer sein können. So oder so: "Es wird der Eindruck erweckt, der Mann bestimme, wie das Spiel ausgeht", sagt Raab. Auf dem Schachbrett ist die Dame die mächtigste Figur, am Brett herrscht deutlich weniger Respekt vor ihnen, so scheint es.

Offener Brief ohne Signalwirkung
Die Intention hinter den Flirtversuchen oder den vermeintlich nett gemeinten Sprüchen mag nicht in allen Fällen böse sein, der Situation sind sich die Männer aber zumindest nicht bewusst. Bei offenen Turnieren, an denen Männer und Frauen teilnehmen können, ist eine Schachspielerin regelmäßig die einzige Frau unter 50 oder 60 Männern. Auch im Training ist das Verhältnis in vielen Vereinen nicht anders. Talentierte Schachspielerinnen müssen bei Turnieren zudem schon im Teenager-Alter gegen deutlich ältere Männer antreten. Es ist ein strukturelles Ungleichgewicht, das gesellschaftliche Probleme potenziert.
Vor anderthalb Jahren wiesen mehr als 100 Schachspielerinnen aus mehreren Ländern mit einem offenen Brief auf den Sexismus und sexuelle Belästigungen durch männliche Kollegen in ihrem Sport hin und forderten Änderungen. Auch die deutsche Spielerin Lilli Hahn unterzeichnete den Aufruf damals. Im Gespräch mit rbb|24 bilanziert sie, seitdem habe sich viel zu wenig getan. Bei diesem Thema gehe in der Schachwelt alles "sehr, sehr langsam", so Hahns Eindruck.
Paul Meyer-Dunker, der als Berliner Verbandspräsident im Deutschen Schachbund mit Anträgen häufig auf das Thema aufmerksam machte, sagt rbb|24: "Ich habe nicht wahrgenommen, dass der Brief zu einem Umdenken geführt hat. Ich befürchte, die meisten werden sich kaum noch daran erinnern." Er findet, in den Diskussionen gehe es immer noch "zu häufig darum, ob man eigentlich etwas tut oder nicht und nicht was", so Meyer-Dunker.
Sinnvolle Förderprojekte gesucht
Der Deutsche Schachbund hat nach eigenen Angaben im März ein einjähriges Evaluationsprojekt gestartet. Dessen Ziel soll es sein, die Gründe dafür zu finden, weshalb junge Frauen und Mädchen aus dem Schach aussteigen. Bei den Jüngsten sei die Mädchenquote nämlich teilweise noch bei um die 20 Prozent, erst später sinke sie rapide. Ende Mai sollen erste Erkenntnisse vorgestellt werden, beim Bundeskongress.
Wettbewerbe im Schach werden in zwei Kategorien ausgetragen: In der offenen treten Männer und Frauen gegeneinander an. In der Weltrangliste zeigt sich: Wenn Frauen im Nachwuchs und in der Breite fehlen, tauchen sie auch in der Spitze sehr selten auf. Erst einer Frau gelang es bislang, in die Top-10 zu kommen: Judith Polgar. Die ungarische Großmeisterin besiegte auf dem Weg dahin aber viele legendäre männliche Schachspieler ihrer Generation und ist bis heute ein großes Vorbild für viele Frauen. Derzeit gibt es keine wie sie: Mit der Chinesin Hou Yifan liegt die bestplatzierte Frau auf Weltranglistenplatz 104, ihr Elo-Rating beträgt 2.633. Die offenen Wettkämpfe sind häufig von Männern dominiert.
Eigene Ligen für Frauen in Deutschland eine Chance
In Deutschland gibt es neben Wettkämpfen und Ligen der offenen Kategorie ein zweites Ligensystem für Frauen. Helen Raab ist darin mit der Frauenmannschaft des SC Kreuzberg gerade in die 1. Frauenbundesliga aufgestiegen. Ein großer Erfolg. Raab spielt parallel auch für ihren Verein in einem Mixed-Team in der Oberliga - so machen das viele starke Spielerinnen in Deutschland. In ihrer Mannschaft fühlt sie sich wohl. "Wenn es in Spielen gegen andere Teams nun doch noch zu blöden Situationen kommt, habe ich den Rückhalt von meinem Team und stehe nicht mehr alleine da", sagt Raab.
Solange der Frauenanteil im Schach niedrig ist, braucht es die eigenen Ligen und Turniere für Frauen, sagen Spielerinnen unterschiedlicher Leistungsklassen rbb|24. Für einige sind Frauenligen ein Safe Space in der Männerdomäne Schach. Denn hier gibt es keinen Kampf um Geschlechtergerechtigkeit, nur den auf dem Schachbrett.