
Berlin Tocotronic in Berlin: "Dankeschön, dass ihr am Leben seid"
30 Jahre nach ihrem Debutalbum ist die Band Tocotronic beim ersten von zwei Osterkonzerten in Berlin spannend, zärtlich und wild wie immer. Und feiert das Überleben in stürmischen Zeiten. Von Hendrik Schröder
Die Band Tocotronic wurde Mitte der 1990er bekannt mit Liedern, deren Refrainzeilen man auf T-Shirts hätte drucken können (und dann auch tatsächlich gedruckt hat). "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" war zum Beispiel so ein Song. Oder "Digital ist besser", Titelstück ihres ersten Albums, das sie an diesem Abend in der Columbiahalle gleich an dritter Stelle spielen.
Und dann sagt Sänger Dirk von Lowtzow zur Begrüßung diesen Satz ins Mikrofon: "Dankeschön, dass ihr am Leben seid, das ist ja heutzutage gar nicht mehr selbstverständlich." Und man weiß nicht genau: Meint er wegen Krieg und Krise und Co., oder weil Band und Publikum mittlerweile ein gewisses Alter erreicht haben? Ersteres bestimmt. Jedenfalls ist es einer dieser typischen Dirk-von-Lowtzow-Sätze, die gleichzeitig banal und wahnsinnig klug und tiefsinnig klingen und aus denen Tocotronic seit 30 Jahren Alben machen. Passenderweise an dieser Stelle im Konzert dann "Bleib am Leben".

Wir kennen uns
Neue Fans gewinnen sie damit wahrscheinlich nicht mehr viele. Von Lowtzow sagt zur Bandvorstellung später selbst gen Publikum: "Wir kennen uns ja alle miteinander schon ein bisschen länger." Aber wer die Band einmal ins Herz geschlossen hat, sei es gleich in den 1990ern für den sloganhaften Trainingsjacken-Rock - oder später, als die Songs vielschichtiger wurden, die Texte lyrischer und die Trainingsjacken schwarzen Rollkragenpullovern wichen, wer sich einmal in diese drei respektive vier Typen verliebt hat, der kommt immer wieder.
Und wird nie enttäuscht. Und so bleibt dann auch das erste von zwei Berlin-Konzerten der Band am Osterwochenende weitgehend überraschungsfrei. Auf den Amps stehen die gewohnten Plüschtiere, mit denen Bassist Jan Müller ("Mr. Schabernack Jan Müller-Rocks" nennt ihn von Lowtzow bei der Bandvorstellung) später seine Mitmusiker bewerfen wird.

Songs von fast allen Alben
Sänger von Lotzow führt, mittlerweile cool ergraut, als eine Art selbstironischer aber entschlossener Zeremonienmeister durch die Lieder. Nennt die Fans "ihr Lieben", haut mal einen raus gegen Rechte, die man besser mit einem Kuss auf den Mund als mit Gewalt besiegen sollte, wie er im neuen Song "Denn sie wissen, was sie tun" mit seiner schönen, tiefen, rauchigen immer so bedeutungsschwangeren Stimme singt.
Nur vier ihrer 13 Alben lassen sie bei der Auswahl der Songs aus, von allen anderen gibt es meist einen Doppelpack. Eher ungewöhnlich bei einer Band, die so viel Musik veröffentlicht hat. Normalerweise werden ja gerne mal ganze Abschnitte der Karriere ausgelassen, weil sich die Songs Jahre später als wenig relevant herausstellen. Nicht so bei Tocotronic, die ihre Alben behüten wie ihre Kinder und bei denen live kein einziger Song langweilig oder egal ist.
Neues temporäres Bandmitglied
Richtig neu ist eigentlich nur der Tour-Gitarrist. Felix Gebhard, der sonst auch mal mit den Einstürzenden Neubauten oder Muff Potter zu sehen ist und der den erkrankten und länger pausierenden eigentlichen Vierten im Bunde Rick McPhail toll vertritt. Der völlig uneitel, souverän und wahnsinnig gut die Hook Lines spielt und ansonsten nicht weiter auffällt. Riesen Applaus bekommt er dafür am Ende.
Überhaupt sind die Fans echt aus dem Häuschen und mit den gefühlt zehn Zugaben aus ihren wilderen Jahren kommt dann nach langer Zuhörstimmung auch mal ein bisschen Tanzwut in die Columbiahalle und es fängt an, so richtig Spaß zu machen.
Nicht zu viel Nostalgie
Fast zwei Stunden lang spielen sich Tocotronic in über 20 Tracks durch ihre Bandgeschichte. Die Stücke vom neuen Album "Golden Years" klingen dabei live teils deutlich interessanter als auf der hier und da doch etwas langatmig und schwerfällig geratenen Platte. Aber gut, wichtig, unverzichtbar dass Tocotronic noch neue Alben machen, immer mal wieder versuchen, sich vielleicht nicht neu zu erfinden, aber neu zu orientieren. Auch wenn nicht jedes Album zündet. Denn ohne neue Tracks wäre das hier schnell eine Nostalgie-Show für 50-plus-Publikum. Und dafür sind Tocotronic nun allem Anschein nach wirklich noch nicht bereit.
Sendung: rbb24 Inforadio, 20.04.2025, 8:10 Uhr