
Ukrainischer Präsident in Berlin Selenskyj warnt vor russischer Offensive in Sumy
Russland bereitet dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zufolge eine Offensive in der Region Sumy vor. In Berlin berät er mit Kanzler Merz. In der Debatte um weitere Hilfe taucht auch wieder der "Taurus"-Marschflugkörper auf.
Die Ukraine droht im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg noch stärker unter Druck zu geraten. Das russische Militär habe im Nordosten der Ukraine etwa 50.000 Soldaten zusammengezogen und bereite offenbar eine neue Offensive vor, warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Selenskyj äußerte in einer am Dienstag abgehaltenen Pressekonferenz die Vermutung, Russland könne mit einem möglichen Vorstoß in Sumy versuchen, eine Pufferzone entlang der Grenze zu schaffen. Pläne dieser Art hatte kürzlich Russlands Präsident Wladimir Putin geäußert.
Gegenüber der ukrainischen Region Sumy liegt auf russischer Seite der Grenze die Oblast Kursk. Hier hatte die Ukraine im vergangenen August eine Offensive gestartet. Im April hatte der Kreml verkündet, die Region sei vollständig zurückerobert worden, was die Ukraine bis heute bestreitet.

Karte der Ukraine und Russlands, hell schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Widersprüchliche Angaben zum Kriegsverlauf
Nun bündele Russland seine "größten und stärksten Kräfte" an der Front bei Kursk, warnte Selenskyj - und bekräftigte erneut, dass nach wie vor Streitkräfte des eigenen Militärs in Kursk aktiv seien. Die ukrainische Armee versuche einen Angriff abzuwenden, unter anderem durch ihre Aktionen im benachbarten Kursk. Russland versuche, diese Truppen aus Kursk zu verdrängen und bereite gleichzeitig "offensive Aktionen gegen die Region Sumy" vor.
Die ukrainische Armee sieht sich bereits seit Monaten an der Ostfront einem drohenden Vormarsch Russlands gegenüber. Die Angaben aus Kiew und Moskau zum Verlauf des Krieges widersprechen sich jedoch.
Während Selenskyj betonte, dass es der eigenen Armee gelungen sei, die russischen Truppen wieder um einige Kilometer zurückzudrängen, meldet das Verteidigungsministerium in Moskau die Einnahme mehrerer Ortschaften in der Region Sumy. Der russische Verteidigungsminister Andrej Beloussow betonte, es gelinge den eigenen Truppen, an allen Frontabschnitten in der Ukraine vorzurücken.
Empfang mit militärischen Ehren
Angesichts der möglichen neuen Offensive Russlands dürfte Selenskyj bei seinem Besuch in Berlin noch vehementer auf fortwährende und umfassendere Unterstützung drängen. Nach dem Empfang mit militärischen Ehren will Selenskyj mit Bundeskanzler Friedrich Merz über den Krieg beraten.
Merz hatte sich zuletzt angesichts der dauerhaft gescheiterten Bemühungen um aufrichtige Verhandlungen über eine Friedenslösung für die Ukraine resigniert geäußert. Ein mögliches Kriegsende sieht er inzwischen offenbar in weiter Ferne.
Kriege gingen in der Regel durch wirtschaftliche oder militärische Erschöpfung einer der beiden Seiten oder beider Seiten zu Ende, sagte Merz während eines Besuchs in Finnland. "Davon sind wir in diesem Krieg offensichtlich noch weit entfernt. Deswegen rechne ich damit, dass wir uns möglicherweise noch auf eine längere Dauer einzustellen haben", so der CDU-Politiker. Denn auf eine echte Verhandlungsbereitschaft Russland scheint derzeit niemand mehr zu setzen - weder Merz, noch die EU oder die USA.

Der ukrainische Präsident Selenskyj wurde von Bundeskanzler Merz mit militärischen Ehren empfangen.
Lawrow stellt weitere Verhandlungen in Aussicht
Moskau hingegen versucht, andere Signale zu senden. Russlands Außenminister Sergej Lawrow stellte weitere Verhandlungen mit der Ukraine in Aussicht. Eine nächste direkte Gesprächsrunde werde in Kürze angesetzt, kündigte er an - ohne weitere Details zu einem Zeitpunkt oder zu den Teilnehmern zu nennen. Auch, ob die Ukraine Kenntnis über die in den Raum gestellten Verhandlungen hat, ist unklar.
Vor rund zweieinhalb Wochen hatte Putin selbst erstmals direkte Verhandlungen mit der Ukraine vorgeschlagen. Diese fanden in der Türkei statt, doch bis auf die Vereinbarung auf einen Gefangenenaustausch blieb ein durchschlagendes Ergebnis aus. Stattdessen setzt Russland seine massiven Angriffe auf die Ukraine fort.
Selenskyj: Brauchen weitreichende Waffen
Dass sich die Ukraine in ihrer Verteidigung der anhaltenden Unterstützung aus Deutschland gewiss sein könne, hat Merz bereits mehrfach betont. Doch wie soll die aussehen?
Neben der nötigen Luftabwehr fehlt es der Ukraine vor allem an "unbemannten und weitreichenden Waffen", wie Selenskyj am Dienstagabend in einer Videobotschaft betonte. Westliche Staaten haben solche Waffen aber kaum geliefert. Der ukrainische Staatschef drängt deshalb darauf, die eigene Rüstungsindustrie weiter auszubauen. Russland müsse fühlen, dass alle seine Untaten gegen die Ukraine beantwortet würden.
"Schlüsselelemente sind Angriffsdrohnen, Abfangjäger, Marschflugkörper und ukrainische ballistische Raketen. Wir müssen alles produzieren", forderte Selenskyj. Doch dafür braucht die Ukraine Geld und die nötigen Rüstungsgüter.
Aufhebung des Reichweitenbeschränkung
Die im November zerbrochene Ampelkoalition hatte sich stets gegen weitreichende Angriffe der Ukraine auf russisches Staatsgebiet mit aus Deutschland erhaltenen Waffen ausgesprochen. Merz äußerte sich nun anders. Es gebe keine Reichweitenbeschränkungen mehr, betonte der CDU-Politiker in Finnland. Denn: "Ein Land, das sich nur im eigenen Territorium einem Angreifer entgegenstellen kann, verteidigt sich nicht ausreichend."
Der Haken: Deutschland hat bisher keine Waffen an die Ukraine geliefert, die für Angriffe weit in russisches Territorium hinein eingesetzt werden könnten. Die größte Reichweite von Waffen, die Deutschland bisher geliefert hat, liegt bei 84 Kilometern beim Raketenwerfer "Mars II". Die Panzerhaubitze 2000 kann Ziele in 56 Kilometern Entfernung treffen.
Erneut Forderungen nach "Taurus"-Lieferungen
Die Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung im Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, begrüßte Merz' Kehrtwende in Sachen Reichweitenbeschränkung ausdrücklich. Das sei eine "überfällige Entscheidung" gewesen, so die FDP-Politikerin im Interview des Bayerischen Rundfunks. Sie kritisierte jedoch zugleich, dass die bislang von Deutschland gelieferten Waffen "nicht im Entferntesten" die Reichweite hätten wie etwa die von Großbritannien gelieferten "Storm Shadow"-Marschflugkörper oder die "ATACMS"-Marschflugkörper der USA.
Darum sprach sich Strack-Zimmermann dafür aus, die bisherigen deutschen Waffenlieferungen um "Taurus"-Marschflugkörper zu ergänzen, damit die Ukraine in der Lage sei, russische Militäranlagen zu treffen und Russland auf Abstand zu halten. "Taurus sei "aber keine Wunderwaffe", betonte die Verteidigungspolitikerin. Die Warnung, "der Taurus würde ja Moskau erreichen, ist eine Geschichte, die gerne von Moskau erzählt wird. Wir sollten endlich aufhören, diese Geschichte zu wiederholen", so Strack-Zimmermann.
Drängende Stimmen aus den eigenen Reihen
Bundeskanzler Merz hält sich bisher betont bedeckt in Sachen "Taurus", will sich öffentlich möglichst gar nicht dazu äußern. Dabei hatte die Union zu Zeiten der Ampel-Regierung mehrfach Anträge im Bundestag für eben jene "Taurus"-Lieferungen eingebracht.
Auch jetzt werden erneut Forderungen aus den eigenen Reihen nach einem Umdenken laut. Es sei nun "allerhöchste Zeit, endlich an Taurus auszubilden und das System zu liefern", forderte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter in der Augsburger Allgemeinen. Die Marschflugkörper könnten "zumindest in Teilen eine Entlastung bringen und somit die Zivilbevölkerung in der Ukraine schützen, wenn das System in größerer Zahl geliefert wird".
Spahn setzt auf Zurückhaltung
Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Jens Spahn, setzt beim Thema "Taurus" - ähnlich wie Kanzler Merz - auf Zurückhaltung. Und zwar auch mit dem Blick nach Moskau, wie Spahn im rbb-Interview ausführte. "Ich denke, es macht wenig Sinn, über einzelne Waffensysteme zu reden. Putin darf ruhig im Unklaren darüber sein, was wir tun, was wir liefern, welche Möglichkeiten die Ukraine hat. Entscheidend ist, die Ukraine wird so ausgestattet, dass sie ihre Heimat und auch unsere Freiheit verteidigen kann", so der CDU-Politiker.
Den Besuch von Selenskyj in Berlin wertete Spahn als "starkes Zeichen" und er betonte, dass "die deutsche Führungsrolle auch in der Verteidigungsunterstützung für die Ukraine" weiterhin gelte.
Auch die Grünen drängen auf die deutsche Zustimmung zu "Taurus"-Lieferungen. "Nur 'Taurus' könnten zentrale militärische Knotenpunkte der russischen Armee in der Grenzregion treffen", betonte Anton Hofreiter. Die Kehrtwende des Kanzlers in Sachen Reichweite sei nicht mehr als eine "Nebelkerze", solange die Bundesregierung den "Taurus"-Lieferungen nicht zustimme.