
Brandenburg Berlin Warum Diskussionen am Familientisch zur Zeit so oft eskalieren
Nein, es kommt uns nicht nur so vor, als geräte man am Familientisch leichter in Streit als zuvor. Der Psychologe Philipp Yorck Herzberg sagt, die Polarisierung in der Gesellschaft sei derzeit besonders stark - und deshalb auch das Konfliktpotenzial.
rbb|24: Herr Herzberg, an Ostern sitzen viele mit ihren Verwandten am Essenstisch. Wenn dann Onkel Dieter Afd-Phrasen von sich gibt – aber auch, wenn Finja (she/her) der Oma erklärt, dass der Kartoffelsalat zwar vegetarisch, aber leider nicht vegan ist - kommt es fast zwangsläufig zu Konflikten. Gab es derlei Kontroversen immer?
Philipp Yorck Herzberg: Ich war vor ein paar Wochen mit der Philosophin Svenja Flaßpöhler, die ein Buch über das Streiten geschrieben hat, auf einer Podiumsdiskussion. Wir haben darüber gesprochen, dass solche extremen Wellen immer mal wieder gibt. Das mag in der 68er Generation mit ihren Nachkriegseltern auch so gewesen sein. Dann folgen meist ruhigere Zeiten. Und ja, im Moment haben wir eine starke Polarisierung in der Gesellschaft. Deswegen ist das Konfliktpotenzial sehr hoch. Und die Menschen, die sich als wahnsinnig tolerant bezeichnen, sind es oft gar nicht. Die Toleranz ist deutlich eingeschränkt und die Bereitschaft zuzuhören scheint auch abhandengekommen zu sein. Es gibt also immer wieder solche Wellen, und wir befinden uns in dieser gerade auf dem Peak.
Welche Themen polarisieren in Familien besonders?
Politische Differenzen werden sehr stark überzeichnet. Und da muss man etwas aufpassen. Der Journalist Ulf Poschardt hat neulich ziemlich vom Leder gezogen zum Thema "Shitbürgertum". Daran ist vieles richtig, denn die vermeintliche moralische Überlegenheit der linken Seite in den derzeitigen Debatten ist nicht gerechtfertigt. Beide Seiten haben Recht und Unrecht in gewissen Teilen. Und beide lassen Fakten unter den Tisch fallen und überbetonen andere. Rechts, im Sinne von konservativ, ist politisch gesehen genauso legitim wie Links, im Sinne von progressiv. Und die Extreme sind auf beiden Seiten verkehrt. Aber diese Diskussionen werden nicht mehr sachlich geführt, und es wird sich nicht mehr zugehört. Daher gehen Eskalationen auch quer durch Familien.
Sind solche familiären Eskalationen schmerzhafter als die im Freundeskreis oder auf der Arbeit?
Ja, natürlich. Je näher einem jemand steht, umso schmerzhafter ist es. Es sollte auch schmerzhafter sein, weil die Bindungen enger sind. Es kann sich um eine Kaskade handeln - beispielsweise, wenn jemand schon woanders schmerzhafte Erfahrungen der Ausgrenzung oder des Nicht-verstanden-seins gemacht hat. Dann kann das in anderem Umfeld auch schnell schmerzhaft sein, weil es zuvor schon passiert ist.
Fällt es uns bei nahestehenden Familienmitgliedern grundsätzlich schwer, anderes Denken zuzulassen?
Das hängt von der Beziehung der Personen ab. Wenn uns eine Person nicht ganz so wichtig ist, können wir vielleicht auch mal Fünfe gerade sein lassen. Handelt es sich um den Partner, ist die Enttäuschung schnell besonders groß.
Niemand muss sich Standpunkte anhören, in denen man beschimpft wird oder andere beleidigt werden
Sind diese Streitereien am Tisch eigentlich wirklich politische Debatten - oder doch eher Machtkämpfe zwischen den Generationen?
In politischen Debatten gehtes um die Deutungsmacht. Und zur Zeit gibt es einander gegenüberstehende Deutungshoheiten, die sehr vehement sind. Ein Beispiel: 2021 sagte der Physiker Roland Wiesendanger, der Corona-Ursprung stamme aus einem Labor. Er ist von dem Virologen Christian Drosten extrem angefeindet worden. Doch die offizielle Lesart ist inzwischen, dass es durchaus ein Laborunfall war. Drosten war sehr unsachlich und es wurde zu einer persönlichen Fehde. Und das ist in vielen Bereichen so hinsichtlich angeblich eindeutiger Meinungen. Doch es gibt nicht nur schwarz und weiß. Wenn man einen anderen also vehement runtermacht mit seinen Argumenten, ist das oft eine Machtfrage und keine gut durchdachte Argumentationslinie.
Man kann vom andern eigentlich immer auch lernen. Man kann zuhören und fragen, warum er oder sie das so sieht und welche Aspekte es gibt. Aber genau das - einzugestehen, dass man nicht dieselbe Meinung hat, die des anderen aber respektiert - scheint verloren gegangen zu sein. Bei vielen heftigen Reaktionen handelt es sich psychodynamisch gesehen um Übertragungen. In der Psychologie sagt man, das sind abgespaltene Teile von sich selbst, die man an sich nicht wahrhaben will. Weil man moralisch der Gute sein will.
Was kann man jetzt tun, wenn schon vorher klar ist, dass es Ostern wieder rappelt? Ist es überhaupt sinnvoll, solche Diskussionen am Familientisch zu führen oder sollte man sie lieber vermeiden?
Vermeidung ist keine gute Strategie. Es ist aber sicherlich auch nicht gut, die Situation an einem Festtag eskalieren zu lassen. Man kann vorher Regeln aufstellen. Man könnte kritische Themen benennen und ausklammern - wenn das gewünscht ist. Aber darüber muss man sprechen. Man kann sich auch darauf einigen, diese Themen beispielsweise nicht am Essenstisch zu besprechen, sondern sich hinterher zurückzuziehen mit einer Tasse Kaffee und dann für eine bestimmte Zeit darüber zu sprechen. Aber in einem bestimmten Rahmen. Also ohne, dass man sich beleidigt, beispielsweise. Das klingt konstruiert, aber es kann funktionieren.

Und wenn man dann eben hinterher über kritische Themen spricht: Wie kann man ruhig und souverän bleiben - auch wenn ein Familienmitglied schlimme sexistische oder diskriminierende Aussagen macht?
Man könnte vorher vereinbaren, immer eine wertschätzende Sprache zu benutzen und auf der Sachebene zu bleiben. Mit provozierenden Begriffen geht man auf die Beziehungsebene und trifft und verletzt den anderen. Eine vernünftige Sprache ist die Grundlage, um auf der Sachebene weiterzukommen und sich die Standpunkte des anderen überhaupt anhören. Niemand muss sich Standpunkte anhören, in denen man beschimpft wird oder andere beleidigt werden.
Und wenn es doch passiert?
Dann sollte derjenige die Größe haben sich zu entschuldigen und vielleicht einräumen, dass er oder sie sich Luft machen wollte und es nicht so gemeint hat. Dann kann man eine Auszeit nehmen, durchatmen und dann weitersprechen. Aber der Rahmen, dass das funktioniert, ist der Wille und die innere Bereitschaft der Beteiligten, weiterkommen und den Konflikt lösen zu wollen. Manchmal kann man einen Konflikt auch nicht sofort lösen.
Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn Konflikte selbst am Familien-Esstisch immer häufiger und heftiger werden?
Dass die Gesellschaft absolut polarisiert ist. Das sieht man auch daran, dass all das, was wir früher als Mitte bezeichnet haben, marginalisiert ist. Die Ränder sind gestärkt. Das ist immer ein Zeichen dafür, dass es eine extreme Spannung in der Gesellschaft gibt. Der Zulauf an den Rändern zeigt, dass die politische Mitte nicht mehr gehört wird. Das kann man dann auch auf die Familienebene übertragen. Sachliche Meinungen werden belächelt, viele Sachverhalte gelten als viel zu kompliziert. Da geht es auch um Ohnmacht, weil Extreme oftmals eine absolute Vereinfachung sind. Doch die Welt ist vielschichtig. Es gibt keine simplen Antworten auf komplexe Fragen.
Gibt es Auswege aus dieser Dauerspannung - oder bleibt das jetzt einfach so?
Ich kann dazu nur sagen, dass man wieder anfangen sollte, einander zuzuhören. Ich habe den Eindruck, dass immerhin die Medien, die eine Zeitlang sehr stark polarisiert haben, jetzt auch anfangen, wieder etwas ausgewogener zu berichten. Extreme schaden der Gesellschaft - und sie schaden den Menschen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
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